Nehmen wir ein Gebäude. Ja, ganz recht, eine wunderschöne Fassade, mit Leuchtreklame vielleicht, da unten an der Straßenecke, für das gemütliche Café, in das wir immer gehen. Und darüber, an manchen Kanten, ein wenig von diesem charmant bröckelnder Putz, der einen schüchtern-lüsternen Blick auf nackten Stein gewährt. Es ist schön anzusehen. Das ist Brasilien, das ist ein riesiger, eindrucksvoller Redeemer, das ist farbenprächtig scheinendes Rio!

Vergangenen Donnerstag spielte eine Gruppe Jugendlicher aus Rio de Janeiro in Landessprache ein Stück über Samba, Carnaval und Caipirinha – gepaart mit Drogen, Gewalt und Trauer. Sie verschafften damit dem Publikum den Blick hinter eine strahlende Fassade, hinein in das Gesellschaftssystem, in mangelnde Sozial- und Gesellschaftspolitik, Teufelskreise der Beschaffungskriminalität und gefühlslose „Ordnungsorgane“. Es ist sozusagen eine sehr ambivalente Innenausstattung, die dieses Gebäude behaust. Einiges wird in Katalogen als Wohlfühloase gepriesen und manches davon ist jenseits von geschmacklos.

Wenn wir Pedro, einem Schauspieler der Jugendgruppe, das Wort erteilen, wird klar, warum diese Dualität zwischen Fremd- und Eigenwahrnehmung ein entscheidendes Merkmal der Kritik am eigenen Land ist:

My play is about brasil and the streets in brasil. There are a lot of homeless people and I talk about these in this play. And this was a [better?] experience of my life […] It’s just, this country is beautiful and I want to brasil a little like this place here […], that’s why we do this play, for change brasil, for open people minds, for help brasil.

Pedro über die Dualität zwischen Fremd- und Eigenwahrnehmung des eigenen Landes

Das Stück reiht sich mit seiner Kritik am Missstand in international anerkannte Künstlerkollektive ein. So auch etwa die noch bis zum 30.06. zu sehende Ausstellung „Rio is a hot city – Architektur des Überlebens“. Eine Bilderflut, die sich in Hellerau ergießt und den Betrachter nahtlos durch die Augen eines Menschen in Rio blicken lässt, oder etwa die Tänzer um die südamerikanische Choreographin Lia Rodrigues, die noch vor wenigen Wochen auf der großen Bühne tanzten und anschließend ein Plädoyer für die Demokratie und gegen den Putsch verlasen, der mit wenigen Händen nimmt, was viele Hände geschaffen.

Damit haben die Künstler vollkommen recht: Wir, denn etwas anderes gibt es nicht, müssen uns die Frage stellen, wie wir diese Welt gestalten, in der wir leben wollen. Und wie wir vor uns selbst verantworten und dulden können, was wenige im Namen vieler tun. Vielleicht sogar, wie wir, wenn wir mal scheitern oder uns geirrt haben, unsere Würde und unser Selbstbewusstsein zurückgewinnen.

Die letzten Tage von „Kids on Stage“ laufen an. Ich kann nur mein persönliches Plädoyer geben: Nutzt diese Chance! Und hört ihnen zu – ihnen, die auf der Bühne stehen und für uns alle hoffen.