Ganz in der Tradition der letzten Jahre präsentiert euch die Redakteure des Campusradio Dresden ihre Lieblingsalben des ausgehenden Jahres. Jede Redakteurin und jeder Redakteur hat für euch drei Reviews zu ihren oder seinen wichtigsten Releases der letzten zwölf Monate verfasst.

Klickt euch durch die Cover und erfahrt, was ihr dieses Jahr alles verpasst habt. Heute Campusradio hören, morgen mitreden können! Viel Spaß und einen guten Rutsch wünscht euch euer Campusradio Dresden.

Alma Dinnebier

Giant Rooks – Wild Stare

Mein Album des Jahres ist ehrlich gesagt kein Album, sondern eine EP, aber definitiv mein Liebling dieses Jahr. Die deutsche Gruppe Giant Rooks hat auf ihrer neuen EP Wild Stare wieder fünf Indie-Pop Songs rausgebracht, die für mich das Gefühl von Jugend perfekt zusammenfassen. Das erste Mal habe ich die Jungs Anfang 2017 mit ihrer ersten EP
New Estate bei einem WDR5 24-Stunden-Literatur-Marathon gehört, bei dem sie mitten in der Nacht in einer Pause gespielt haben. Und dieses 3-Uhr-nachts-in-einer-großen-Stadt-Gefühl ruft ihre Musik immer wieder bei mir hervor. In typischer Feelgood-Indie Manier punktet die Band mit coolen Basslines, Synthesizern und Gesang, der vermuten lässt, dass die Band nicht aus Hamm in Westfalen sondern Nordengland käme. Obwohl die Band ihrem Sound treu bleibt probieren sie auch neue Dinge aus. So enthält der Track „Cara Declares War“ eine 37 Sekunden lange Aufnahme einer Frau, die von der gesellschaftlichen Erwartungen spricht, dass Schönheit glücklich macht, und diese verneint. Diese Aufnahme geht flüssig in den folgenden Song „100 mg“ über. Diese Mischung aus dem Sound, den wir kennen und lieben, und neuen Sachen lässt Fans einem zukünftigen Album immer mehr entgegenfiebern und steigert die Erwartungen nur noch weiter. Verglichen mit der ersten EP strotzt Wild Stare vor Selbstbewusstsein und Lebensfreude. Die Lieder sind tanzbar und gut zum Mitsingen, was zu Feierlaune bei den Konzerten führt. Damit ist die EP perfekt geeignet als Musik für den Sommer, obwohl ich persönlich die Platte zu jeder Jahreszeit gerne höre. Alle Freunde von Indie-Pop sind bei Giant Rooks auf jeden Fall an der richtigen Adresse.

Anspieltips: „Wild Stare“ & „Bright Lies

Suzan Köcher’s Suprafon – Suprafon

Obwohl ich schon seit Jahren von der Band weiß, habe ich mich bis vor Kurzem noch nicht ernsthaft mit ihrer Musik auseinandergesetzt – was für ein Fehler! 2017 brachte Suzan Köcher ihr erstes Album Moon Bordeaux raus, das sehr positiv aufgenommen wurde. Dieses Jahr hat ihre Band dann ihren Namen von Suzan Köcher und der Band Place Fever zu Suzan Köcher’s Suprafon geändert und mit dem gleichnamigen Album direkt nachgelegt. Inspiriert von einer gemeinsamen Reise nach Prag und aufgenommen in Austin, Texas ist es eine Mischung aus den Eindrücken beider Orte. Musikalisch vereinen sich die Kälte Osteuropas und Hitze der südlichen
USA im psychedelischen Stil der 60er und 70er Jahre, während Suzan mit ihrer unverkennbaren Stimme von der Sonne in Texas oder dem Prager Hauptbahnhof singt. Die Inspiration durch Tschechien findet sich vor allem in der zweiten Hälfte des Albums, in tschechischen Songtiteln
und Texten über Prag. Aber auch der Bandname und dem Titel des Albums
Suprafon ist inspiriert von der Reise: „Supraphon“ ist das führende Record-Label in Tschechien. Im Vergleich zum noch sehr folkigen ersten Album ist diese zweite Platte wesentlich psychedelischer, aber die Band schafft diesen Wandel sehr erfolgreich. Weder zu leicht noch zu schwer fließen die Songs wie von selbst harmonisch ineinander und nehmen den Hörer mit auf eine Reise durch eine Welt voller Schönheit. Perfekt um sich mit der Musik treiben zu lassen und
von mir gerne auf langen Zugfahrten durchs Land gehört kann ich dieses Album (und auch das erste Album) allen nur ans Herz legen.

Anspieltips: „Poisonous Ivy“, „Hlanví Nádrazí

Tessa Violet – Bad ideas

„I hope that you don’t think I’m rude, but I wanna make out with you“ Wir kennen es
wahrscheinlich alle – man lernt jemanden kennen, der/die ganz toll ist. Aber man ist ganz bestimmt nicht verknallt. Na gut, vielleicht ein kleines bisschen (oder auch ein großes bisschen). All diese Gefühle hat die US-Amerikanische Musikerin Tessa Violet nach einer Trennung in ihrem
neuen Album Bad Ideas verpackt – aber nicht das rosarote alles-ist-großartig Bild von Liebe, sondern all die peinlichen, unangenehmen und manchmal auch schmerzhaften Seiten, die Beziehungen mit sich bringen (können). Sie nimmt uns mit durch die verschiedenen Stufen von
Verliebtheit mit all seinen Facetten. Von der ersten Verknalltheit, die man noch leugnet, über das wirkliche Verliebtsein – oder vielleicht auch nur in eine Idee von jemandem verliebt sein – und schlechte Entscheidungen, die man trotzdem immer wieder trifft, bis hin zum Herzschmerz, wenn eine Beziehung nicht funktioniert, ist alles dabei, verpackt in eine Mischung aus tanzbaren Popsongs, die nach guter Laune klingen und ruhigeren akustischen Liedern. Tessa Violet spielt besonders mit Soundeffekten und kleinen Samples ihrer Stimme, die immer wieder in die Songs
eingebaut werden und ein buntes, abwechslungsreiches Soundbild schaffen.
Mit brutaler Ehrlichkeit, Ohrwurmpotential und teilweise doch sehr lustigen Texten ist dieses Album einfach ein großer Spass beim Zuhören und Mitsingen, den ich nur weiter empfehlen kann für alle die gerne durch ihre Küche tanzen oder vielleicht gerade ein kleines bisschen verliebt sind.

Anspieltips: „Bad Ideas“ & „Bored

Anton Schroeder

The Caretaker – Everywhere at the end of time

Nur ein Mal habe ich mein Album des Jahres komplett gehört, dennoch ist mir kein anderes diesjähriges Projekt so sehr in Erinnerung geblieben wie Everywhere at the end of time von The Caretaker. Und da wären wir auch schon gleich beim Thema: Erinnerung. In den sechseinhalb (!) Stunden Laufzeit von Everywhere at the end of time versucht der britische Experimentalmusiker die Chronik einer Demenz-Erkrankung musikalisch erfahrbar zu machen. Hierfür werden Samples alter Ballroom-Stücke aus den 30er Jahren aneinandergereiht, übereinandergelegt und letztendlich mehr oder minder unkenntlich gemacht – in sechs Phasen wird so das erschütternde Bild des Gedächtnisverlusts und des Verfalls gezeichnet. Ob dies nun einer Demenzerfahrung nahekommt, mag ich nicht zu bewerten. Natürlich kann man Everywhere at the end of time jederzeit stoppen, was bei einer realen Demenz wohl etwas schwieriger zu bewältigen ist, natürlich kann auch niemand behaupten, dass das Album wie Demenz oder Ähnliches klingt. Es ist eben eine Annäherung, ein monumentales Experiment, das sich mehrspurig deuten lässt. So lässt sich die Dekonstruktion der Melodien gleichzeitig auch als Kommentar auf das Vergessen von Kunstwerken lesen. Musik entsteht, existiert und geht durch den Lauf der Geschichte wieder verschütt – passend also auch, dass Everywhere at the end of time nicht auf Spotify zu finden ist (man kann es jedoch für den Spottpreis von 5 Pfund bei Bandcamp erstehen). Fest steht: The Caretaker ist eines der interessanten musikalischen Projekte der Dekade gelungen – zudem ist es auch sein letztes. Hoffentlich eines, das in der kollektiven Erinnerung bestehen bleibt. In meiner relativ sicher.

Anspieltipps: –

Nick Cave & The Bad Seeds – Ghosteen

Der Tod war schon immer ein zentrales Thema im Schaffen Nick Caves, doch so persönlich wie auf Ghosteen hat er diesen wohl noch nie behandelt: das gefühlt hundertste Album des australischen Musikers lässt sich – so muss man es ganz klar sagen – als Verarbeitung des Todes von Caves 15jährigem Sohn Arthur verstehen, der vor nicht allzu langer Zeit im LSD-Rausch von einer Klippe stürzte. Ghosteen steht also gewissermaßen in einer Tradition von Konzeptalben wie A Crow Looked At Me von Mount Eerie oder Carrie and Lowell von Sufjan Stevens (von beiden bin ich großer Fan), doch gleichzeitig stellt dieses Album einen musikalischen Bruch in Nick Caves Karriere dar, der sich mit seiner vorangegangenen LP Skeleton Tree bereits angedeutet hatte. Wirklich Gitarren erkennt man kaum noch, stattdessen hat Cave gemeinsam mit seinen Bad Seeds weit ausladende Ambient-Klangteppiche geschaffen, über denen seine charakteristische Stimme fast wie die eines Propheten schwebt. Eine Weiterentwicklung, die zwar keinesfalls überraschend kommt, dafür aber umso effektiver funktioniert, was auch daran liegt, dass Cave, der ja sowieso unumstritten zu den größten noch lebenden Songschreibern gehört, lyrisch noch einmal im großen Stile selbst übertrifft. Der Tod, der stets über allem schwebt, wird hier mit fabelhaften Tiermetaphern, schmerzhaft Ehrlichen Bekundungen und einer Menge geschmackvollem Pathos unterfüttert – ein ziemlich heikles Unterfangen, das zuweilen scharf am Abdriften ins Esoterische kratzt, sich diesem aber glücklicherweise wissentlich entzieht. Ghosteen war ob des Themas
wohl eine der schwierigsten Geburten in Nick Caves Diskografie. Es ist auch eines seiner besten Alben.

Anspieltipps: “Waiting For You“, “Sun Forest” &”Ghosteen

Lingua Ignota – Caligula

Überraschung: nach diesen zwei herrlich düsteren Alben kommt nun ein drittes! Man stelle sich eine elfenähnliche Frau in einem wunderschönen, langen Gewand vor, die mit schmerzverzogenem Gesicht und einem langen Dreizack in der Hand durch die Hölle marschiert, um denjenigen, die sie früher einmal gepeinigt haben, den Garaus zu machen. Zack fertig, Caligula. Lingua Ignota, amerikanische Multiinstrumentalistin mit absolviertem Gesangstraining im klassischen Bereich, macht auf ihrem zweiten Studioalbum (das erste trug den wunderschönen Titel All Bitches Die) wahrlich Nägel mit Köpfen, wirkt dabei bei dem ganzen Schmerz und der Düsternis, die sowohl klanglich als auch textlich aus ihrem Mund kommen, wie eine Art erhabene Lichtgestalt. Das klingt nun alles etwas verschwurbelt, ist es jedoch auch. Caligula ist eine Art feministische Rache-Oper zwischen Klassik, Metal, Noise und noch Vielem mehr, das ich nicht benennen zu vermag. Lingua Ignotas Lieder, die sie selbst als „Survivor-Anthems“ beschreibt, handeln von Mysogynie, von Gewalt, Hass und Schmerz – es wird nicht überraschen, dass sie selbst früher einmal häuslicher Gewalt ausgesetzt war. Herausgekommen ist ein forderndes, teils emotional überforderndes Projekt, das auf ungeheuer faszinierende Weise gleichzeitig extrem gruselig und wunderschön ist. Oft hat man wirklich Angst vor dieser Frau, die hier von einem auf den anderen Moment anfängt, aus voller Kehle zu brüllen, nur um zwei Minuten später mit engelsgleicher Stimme „Kill them all!“ zu singen. Ein schaurig schönes Album, das mich in diesem Jahr fasziniert und verschreckt hat wie kaum ein zweites.

Anspieltipps: “DO YOU DOUBT ME TRAITOR“, “BUTCHER OF THE WORLD” & “SPITE ALONE HOLDS ME ALOFT

Charlotta Westphal

Steaming Animals – Smoking Dromedary

Steaming Animals, der Name wird vielen Leuten leider noch kein Begriff sein, da die junge Dresdner Band, bestehend aus Jonah Roth (Gitarre), Theis Meckbach (Schlagzeug), Justus Borschke (Gesang und Gitarre), Johannes Kellig (Bass) und Jeremias Wagler-Wernecke (Gitarre),sich erst im vergangenen Jahr gegründet hat. Ende August 2019 haben sie nun endlich ihre erste EP Smoking Dromedary rausgebracht und damit ein wirklich wunderschönes Musikschmuckstück veröffentlicht. Mit Leichtigkeit werden hier die verschiedensten Musikeinflüsse zu einem melodischen Konzept zusammengebracht, dass das Ohr des Zuhörers nur so verwöhnt. Emotionale und träumerische Texte werden verbunden mit tragenden Melodien und einer ganz einzigartigen Klangwelt, die sich in kein Genre einordnen lässt. Nicht einordnen heißt hierbei jedoch auf keinen Fall, dass die Band ihren Stil in diesen jungen Jahren noch nicht gefunden hat. Ich habe eher das Gefühl, gerade dort, wo sie sich nicht einordnen lassen und die Verschmelzung verschiedener Einflüsse geschehen lassen, ist ihr Platz. Sie haben damit nicht die eine Nische zwischen zwei Genres gefunden, sondern verbinden ihre Leidenschaften zu einer ganz eigenen Sparte an musikalischen Ideen und Klängen. Wenn ihre Debüt-EP Smoking Dromedary eines zeigt, dann sind es die vielfältigen und abwechslungsreichen Fähigkeiten, die in den einzelnen Liedern perfekt in Szene gesetzt werden. Man hat das Gefühl, jedes Bandmitglied bekommt seine eigene kleine Bühne und niemand spielt „nur“ im Hintergrund. Zwischen groovigen Sounds und der reifen und weichen Stimme des Sängers finden sich ganz bewusst und perfekt platzierte Soli. Außergewöhnliche und anspruchsvolle Rhythmen und Tempowechsel zeigen die Vielfältigkeit der Band aus Dresden und verkörpern die Freiheit einer Band, die sich noch von keinen Mustern etwas vorschreiben lässt. Auch der Sprung zwischen ruhigen, sanften Tönen und Sprechgesang findet ganz natürlich seinen Platz und gelingt dem Sänger Justus ohne gezwungene Brücken und Übergänge. Die Musik der EP ist ein Miteinander verschiedener Instrumente, Denkweisen und Arten zu fühlen, die sich ganz harmonisch und fließend aneinanderschmiegen. Beim Hören der sieben Songs springt das eigene Herz immer wieder zwischen Funk, Jazz und Pop, zwischen gefühlvollen realnahen Texten und Traumwelten hin und her. Und auch wenn manche Songs hervorstechen und jeder für sich steht, wirkt keiner fehl am Platz im Gesamtkonstrukt der EP. Das Lied „Calm Lie“ zum Beispiel kommt komplett ohne das große Ganze aus und bietet neben den ganzen tanzbaren Sounds einen Ort zum Augen schließen und fühlen. Alles in allem wird man beim Hören der sieben Lieder auf eine Reise mit großen Gefühlen und ausgiebigen Tänzen mitgenommen, deren Grundstimmung sich auf einem neu kreierten schmalen Grat zwischen Traurigkeit und Lebenslust bewegt. Diese Freiheit und Abwechslung auf der EP, die sich niemals behindert oder etwas in den Vordergrund rückt, macht die Band zu einer so großen Bereicherung für die Musikwelt. Ende Oktober spielten Steaming Animals ihr Release-Konzert in der Groovestation in Dresden und die Masse an Zuschauern und begeisterten Zuhörern bestätigte meine eigene Meinung. Smoking Dromedary ist auf jeden Fall eines meiner persönlichen Musik-Highlights dieses Jahres und bringt eine ganz neue Welle musikalischer Kreativität in die Dresdner Szene.

Anspieltipps: „Early in the Morning“ & „Closer

Jesper Munk – Darling Colour

Als ich von Jesper Munk zum ersten Mal etwas hörte, war ich gerade in Österreich in einem kleinen Hotel und packte meine Sachen für den Rückweg nachhause. Ich war eine Woche in Italien gewesen und schaute eigentlich gar nicht hin, was im Fernseher des Hotelzimmers so lief. Aber die Stimme und Musik war mit einem Mal so präsent, dass ich nicht drum herum kam, mir den Künstler anzusehen der dort sein Album performte. Ich war direkt verliebt und notierte mir im Packstress irgendwo seinen Namen. Und dann, angekommen in Deutschland, vergaß ich ihn. Ein paar Jahre später tauchte der Name auf irgendeiner sozialen Plattform erneut auf und ich fragte mich, warum er mir so bekannt vorkam. Ich informierte mich, fand ihn wieder und verliebte mich ein zweites Mal. Jesper Munk besitzt eine Stimme, die für den Blues geboren wurde und sich unverkennbar in den Kopf brennt. Der gebürtige Münchner schaffte es, mit seiner Musik eine in Vergessenheit geratene Sparte von Musik erneut modern aufleben zu lassen und sie mit seinem einzigartigen Klang und gefühlvollen Liedern wieder präsent zu machen. Wer den Namen nicht kennt, sollte jetzt seinen Stift zücken und ihn sich notieren, und zwar dort, wo man die Notiz nicht vergisst. 2013 erschien sein Debütalbum For In My Way It Lies und wenige Jahre später folgten weitere Alben. Jesper Munk hielt jedoch keinesfalls an einem Musikgenre fest und bewegte sich immer wieder neben Blues zwischen Soul, Jazz und auch rockigen Sounds. Auf der neuen EP Darling Colour kommt genau diese Vielfalt zum Vorschein und sogar Punk-einflüsse sind bei dem Song „Fishing Hook“ zu hören. Der 27-jährige Sänger wirkt trotz seiner jungen Jahre schon so ruhig und bedacht, dass die Feinfühligkeit und Texte seiner Lieder, die Bodenständigkeit eines älteren Mannes mitbringen. Man fühlt die Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit in jedem seiner Songs und zwischen Theatralik und Melancholie kann man sich treiben lassen in einem Fluss aus tiefgründiger hochwertiger Musik. In meinen Augen ist Jesper Munk einer der sympathischsten und talentiertesten Musiker, den Deutschland momentan zu bieten hat und seine Musikkarriere und -entwicklung sind so spannungsvoll zu verfolgen, wie nur wenige. Er bleibt nicht stehen oder hängt sich an irgendwelchen Grenzen oder aufgedrückten Figuren auf, er lässt sich die Freiheit, die er benötigt, um genau dort Musik zu machen, wo es ihn am meisten bewegt. Und genau das macht ihn zu einem absoluten Ausnahmetalent.

Anspieltipps: „Old Love“ & „Fishing Hook

Mount Eerie – Lost Wisdom Pt. 2

Der amerikanische Musiker und Produzent Phil Elverum begann 2005 unter dem Pseudonym „Mount Eerie“ Alben zu veröffentlichen und hat seitdem insgesamt 10 Alben rausgebracht. Sein neustes Werk erschien am 8. November 2019 gemeinsam mit Julie Doiron und ist der zweite Part des 2008 veröffentlichten Albums Lost Wisdom. Nachdem der Sänger in seinen letzten Alben den Tod seiner Frau verarbeitete und dokumentierte, handelt das neue Album von einem ganz neuen Herzensbruch mit seiner Ex-Frau Michelle Williams. Mount-Eerie-Alben verfolgen oft ein Konzept bzw. drehen sich um ein Thema und geben die Gedanken und Gefühle von Phil Elverum ungeschönt wieder. Diese rohe und unverarbeitete Art und Weise seine Trauer zum Ausdruck zu bringen, hebt Mount Eerie von den meisten anderen Musikern ab. Er versucht nicht Gefühle durch große Geschichten und dramatisch inszenierte Klangwelten zu vermitteln, sondern spielt und sagt genau was er denkt und wie es sich für ihn anfühlt. Die tiefe Trauer durch den Tod seiner geliebten Frau hat mich schon in den letzten Alben ganz nah an dieses Verzweiflungsgefühl gebracht, welches er wohl durchleben musste und auch das neue Album lässt kein Auge trocken. Seine Texte gehen direkt ins Herz und bleiben im Kopf, nicht im Sinne eines Ohrwurms, sondern auf einer tief verankerten emotionalen Ebene, die einen mitnimmt in seine Welt. Meist unterstützt er diese Texte, die schon fast wie aus einem Tagebuch vorgelesen scheinen, mit seiner Gitarre, die mindestens genauso ehrlich und unaufdringlich wie ungeschönt von ihm gespielt wird. Bei Lost Wisdom Pt. 2 finden sich jedoch öfter auch mal musikalische Ausbrüche, die die minimalistischen und ruhigen Parts durchstechen, wie ein Lichtstrahl die dunklen Wolken. Genauso schimmert auch ein Hauch der Hoffnung durch die Traurigkeit, getragen von der sanften Stimme von Julie Doiron. Pure, reine Gefühle sind nicht für jeden Anlass und jeden Zuhörer etwas, ich empfehle trotzdem, sich darauf einzulassen und die Geschichten in seine Seele zu lassen. Denn wenn man dies tut, erlebt man Musik auf einer anderen Ebene und kommt in den Genuss eines einzigartig emotionalen und unvergesslichen Moments.

Anspieltipps: „Belief“ & „Love Without Possession


Hannes Recknagel

Russkaja – No One is Illegal

Mit ihrem neuen Album No One is illegal haben Russkaja auf ihrem bisher charakteristischen Sound aufgebaut. Weltmusik mit Einflüssen aus russischem Folk, Ska, Rock, Punk und Polkaelemten. Doch nicht nur ihre Musik ist super, auch die Texte sind der Hammer. Von klassischen Gute Laune Song wie Druschba (You are not alone)“ bis zu den neuen Songs, welche sich an Politischen und Gesellschaftlichen Themen bedienen wie der Titelsong „No One is illegal“ oder der erste Song der Platte „Love Revolution“. Die 2005 in Wien gegründete Band zeichnet sich seit jeher durch ihre schnelle und sowohl tanzbare als auch mitsingbaren Songs aus, welche auch den letzten Partymuffel aus den Kissen holen. Die Bläserakzente sind super gesetzt und die rundum rockige Ader der Band kommt in ihrem neuen Album bestens zur Geltung. Auch „Break down the Walls“ bezieht sich, wie viele andere Lieder auf die gefährliche politische Entwicklung in der ganzen Welt, hin zum Nationalismus. Doch auch die jetzige Situation kommt nicht ganz ohne Kritik aus. „Here is The News“ kritisiert sowohl die Konsumgesellschaft und die Nachrichtenerstattung der Medien. Mit „Wild Birds“ kommt ein Song, welcher die Freiheit als wichtiges, wenn nicht sogar wichtigstes Gut unserer Westlichen Welt betont. Den Schluss macht „The best Things in Life are free“. Die Aussage lässt sich schon am Titel erkennen. Man muss nicht immer Geld ausgeben und konsumieren, um glücklich zu sein. Ein Spaziergang bei schönem Wetter, oder ein einfaches Lächeln können schon die Gute Laune bringen, welche wir heute so oft mehr als nötig haben. Und ein Lächeln, das zaubert mir dieses tolle Album jedes Mal ins Gesicht: Egal ob ich die Musik höre, oder nur gerade einen Song in meinem Kopf vor mich hinsinge. Für mich ganz klar das Album des Jahres 2019!

Vogelfrey – Nachtwache

Vogelfrey sind wieder da und diesmal härter denn je. Sowohl musikalisch als auch textlich ist dieses Album eine einzige Bombe. Nachtwache, so der Name dieses großartigen Silberlings liefert auf ganzer länge ab. Met? Ist da. Metal? Auch. Selbstironie? Auf jeden Fall! Den Anfang macht „Ära des Stahls“. In gewohnter Vogelfrey Manier geben sich hier mittelalterliche Texte und Elemente die Hand mit Schlagzeug- und Gitarrensounds aus dem Metal. Drachen töten, Nymphen verführen, Untote in die Gruft zurückschicken, Atlantis finden und nebenbei den Heiligen Grahl finden. So wird man laut Vogelfrey zum Helden. Mit „Schüttel dein Haupt“ wurde eine Ode an die Metalszene geschaffen. Lange Haare, Met en masse und die dem Rhythmus der Musik angepasste Trainingseinheit für die Nackenmuskulatur und den Gleichgewichtssinn. Wie sonst sollte man ein Metalkonzert zelebrieren? „Magst du Mittelalter“ und „Metamnesie“ tragen die Selbstironie in sich, vor welcher kaum eine Band der Mittelalterszene zurückschreckt. Etwas für diejenigen, welche sich etwas mehr in der Szene zuhause fühlen. Mit „Sündenbock“ ist auch der obligathorische Politische Song dabei. Die Hetze gegen Geflüchtete, Hass gegen Fremde und der allgemeine Wunsch, einen Schuldigen für die eigenen Probleme zu finden. Mit diesen Praktiken, welche in Deutschland mittlerweile Gang und gäbe sind wird hier abgerechnet. Und zwar so richtig. Musikalisch einwandfrei und mit einem Text, welcher zu denken gibt. Mein persönlicher Tipp für dieses Album. Bei „Alptraum“ wird es etwas finster. Dieser nächtliche Schrecken, der uns im Schlaf heimsucht und so manche Nächte um Ruhe und Erholung bringt. „Walhalla“ ist eines dieser ruhigen Erzeugnisse, für welche ich die Hamburger Band so sehr in mein Herz geschlossen habe. Die Reise eines Gefallen Kriegers in das Reich des Allvaters bereitet mir jedes Mal wieder eine leichte Gänsehaut. „Midwinter“ ist ein Lied, welcher direkt Lust Macht, die langen Winternächte mit Trunk und Tanz durchzumachen. „Spieglein, Spieglein” geht aus mittelalterlichen Thematiken heraus und gibt einen Anstoß, über unser Verhalten mit Smartphones nachzudenken. Den Abschluss macht „Auf St. Pauli“. Eine Hymne, welche die Reeperbahn als ein Land der Freiheit, Party und Sünde stigmatisiert.
Insgesamt ein Album, welches sich zeigen bzw. hören lassen kann. Ein Mix aus Party, Eskalation, Ruhe und Kritik. Eine dicke 9 von 10!

Sabaton – The Great War

Die schwedischen Powermetal-Ikonen sind wieder da. Und auch dieses Mal haben sie wieder eine Explosive Platte voller Vorstöße auf eure Ohren dabei. Bekannt für ihre Kriegsthemen bringen sie auch in The Great War die Erde erneut zum Beben. Komplett über den ersten Weltkrieg. Schon beim ersten Titel „The Future of Warfare“ kommt die Message an: Krieg ist scheiße. Ohne Glorifizierungen wird hier das Grauen in den Schützengräben des Großen Krieges beschrieben. Ein wichtiger Schritt für die Band, welcher oft vorgeworfen wird, Krieg an sich zu Heroisieren. Wie man es von den Metallern um den Sänger Joakim Brodén wird auch dieses mal wieder Augenmerk auf eher unbekanntere Geschichten und Schicksale gelegt. „Seven Pillars of Wisdom“ handelt zum Beispiel von dem Britishen „Lawrence of Arabia“. „Attack of the Dead Man“ behandelt die Geschichte einr Gruppe von Russischen Soldaten, welche nach einem Giftgasangriff die deutschen Soldaten nicht nur durch ihr Überleben, sondern auch durch einen unerwarteten Gegenangriff bis aufs Mark schockieren. Doch auch bekannte Geschichten lassen nicht lange auf sich warten. „The Red Baron“ erzählt die Geschichte des deutschen Fliegerasses „Manfred von Richthofen. „Fields of Verdun“ lässt den Hörer eintauchen, in die zermürbende Schlacht um die französische Festung. Doch auch am Ende des Albums wird mit „The End of the War to end all Wars“ und „In Flanders Fields“ der Bogen zum Anfang gesponnen. Der Hörer soll nicht aus dem Album gehen und Krieg für eine Gute Sache halten. „The End oft he War to end all Wars“ klingt, als wäre er aus einem der älteren Sabaton Alben, welche sich durch ihren etwas härteren und weniger glatten Sound von den neuen Alben abgrenzen. „In Flanders Fields“ ist nicht mal ein Metal Song. Ein akapella Chorstück, welches selbst dem härtesten Metalhead eine Träne ins Auge drückt.
„Attack oft he dead man“ oder „Red Baron“ fangen in diesem Album aber den meisten Sabaton-Sound ein
Insgesamt ist The Great War nicht so massig wie vorangegangene Alben, aber trotzdem eine Gute Umsetzung des Plans, dem ersten Weltkrieg mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Und das Wort „Panzer“ ist kein einziges Mal gefallen. Ungewöhnlich für die Band, welche extra für ein Musikvideo in einen solchen gefahren ist. Trotz einiger Schwächen und ein paar Stellen, welche sich länger ziehen als dem Song gut tun würde ist das Album ein Knaller und für mich Platz 3 der Alben von 2019.

Jennifer Georgi

Metronomy – Metronomy forever

Metronomy bedeutet so viel wie rhythmische Exaktheit. Passend dazu spielen Drumloops und Snaredrums eine dominierende Rolle auf dem neuen Album von Joseph Mount und Band. Metronomy Forever zeigt sich gewohnt vielseitig, was sich in den verschwimmenden Genregrenzen zwischen Funk, Pop, Indie, Bassmusik bis hin zu Blue Eyed Soul niederschlägt. Auch schwingen in den 17 Titeln die verschiedensten Gefühle mit, vom melancholischen „Walking In The Dark“, über das mysitische „Lying Low“ bis hin zum beschwingten „Salted Caramel Ice Cream“. Damit reiht sich das Album nahtlos in die Serie seiner fünf exzellenten Vorgängeralben ein.

Acid Arab – Jdid

Nach ihrem 2016 erschienen Debütalbum Musique de Frace begaben sich Guido Minisky und Hevré Carvalho alias Acid Arab auf Welttournee. Mit Jdid (arabisch für „neu“) präsentiert das DJ-Duo nun das langersehnte Nachfolgealbum im Oktober 2019. Ein vertiefter Dialog zwischen den nördlichen, südlichen und östlichen Teilen des Mittelmeers. Eine gelungene Komposition aus treibenden Rhythmen mit syrischer, türkischer sowie algerischer Färbungen.

Anspieltipps: „Nassibi“ und „Staifia“.

Kummer – KIOX

Nachdem Kraftklub-Frontsänger Felix und Band erfolgreich ihre wilden Zwanziger vertonten, feiert Kummer nun seinen 30. Geburtstag als Solokünstler. Auf seinem Debütalbum KIOX erwarten uns gesellschaftskritische Songs wie „Wie viel ist dein Outfit wert“, aber auch persönliche Titel übers Älterwerden wie „Der Rest meines Lebens“, anstelle von Alphagedanken und „Streetcredibility“. Der Versuch Rap wieder „weich“ zu machen scheint durchaus gelungen.

Leonid Lewandowski

Crumb – Jinx

Jinx ist im Juni diesen Jahres erschienen und in der Hektik dieser gottverdammt apokalyptischen Hitze glatt an mir vorbeigezogen. Mit Einzug des Herbstes und Auszug des Sommer(SonneKaktus)-Terrors, wurde dem Album dafür zunehmend die verdiente Aufmerksamkeit zuteil. Jinx ist zwar sorglos wie Sommerferien, aber auch kühl, zurückgezogen und schwer wie Herbstmelancholie.

Das jazzige Schlagzeug bietet den Hintergrund, vor dem die sphärisch-klaren Synthies im Duett mit den Vocals singen. Ein Saxophon fügt sich passend in die verspielte Weltvergessenheit ein. Ästhetisch wirkt Jinx wie ein innerlich gespaltenes und intimeres Album von Japanese Breakfast.

Lila Ramani singt – im besten Sinne – beinahe teilnahmslos. Der Gesang erzeugt das Gefühl von Großstadtapathie – sich im täglichen Menschenstrom einfach treiben zu lassen, dabei aber innerlich von Allem entrückt zu sein.  In dem Song „Ghostride“ zum Beispiel wird genau dieses Abdriften in einen Zustand des bloßen Beobachtens von Mitmenschen geschildert:

Pressed my face up close against the glass I see the people
When they pass they move so automatic
You wake up when I go down
The radio reminds me I’m alive

Eine hypnotische Sorglosigkeit schwebt über dem Album und sorgt – besonders bei inhaltlich düsteren Passagen – für Gänsehaut. Grade auf Albumlänge überzeugt das Debut der Bostoner – die knapp bemessenen 30 Minuten werden perfekt genutzt. Es wird elegant Atmosphäre aufgebaut, die sich mit mehrmaligem Hören noch verstärkt und es wurde auf Filler verzichtet.

Crumb machen Musik für die Zeit zwischen vier und sieben Uhr morgens. Wenn fast die ganze Stadt schläft, die dunkelsten Stunden bald von dem ersten Blaugrünrotgelb am Horizont abgelöst werden. Dann sollte man dieses Album hören. Aber nur bis kurz vor dem Sonnenaufgang.

Anspieltipps: “Ghostride” & “And It Never Ends

Xiu Xiu – Girl With Basket Of Fruit

Xiu Xiu – Schutzpatron der emotionalen Instabilität und Qualitätsgarant für Musik, die ebenso großartig und experimentell, wie sie traurig und verstörend ist. Die Gruppe um Jamie Stewart ist seit ihrer Gründung im Jahr 2002 eine musikalische Insel, die ihren ganz eigenen Sound stets überraschend weiterentwickelt hat und sich jedem Vergleich verwehrt. Zuletzt hörte man 2017 von den Amerikanern mit ihrem fast optimistischen art-pop Album FORGET.

Girl With Basket of Fruit ist dagegen geradeheraus psychotisch – Xiu Xiu sind nicht gerade für heile-Welt-Musik bekannt, aber hier wurde der Gang in seelische Abgründe bis zum absoluten Ende gegangen. Dies wurde artistisch sehr spannend in Texten wie Instrumentarium aufbereitet. Herausgekommen ist eine musikalische Wundertüte an experimentellen Bombardements, die man erst zu genießen lernen muss, dann aber ihre Stärken selbstbewusst zeigen kann.

Auf Albumlänge hört man Jamie Stewart in den verschiedensten Stimmungen und Stimmlagen wimmern, säuseln oder rufen. Es wurde sehr stark mit Samples gearbeitet, die gepitcht und geloopt an allen Enden zu finden oder in Beats eingebettet sind, wie auf „Pumpkin Attack On Mommy And Daddy“. Absurdität zieht sich durch das ganze Album. Der einleitende Titeltrack beginnt schon wie ein Guerilla-Angriff auf alle zuvor gebildeten Hörkonventionen/-erwartungen und kulminiert im Aufzählen verschiedenster Früchte durch eine tiefe Ansager-Stimme, während Samples, Synths und Trommelbeats eben jenes zelebrieren – genial!

Die Texte spiegeln die selbe gewaltsame Zerrütterung wie der Sound wider. Hier eine kleine Auswahl:

Aus “Girl With Basket Of Fruit”:

The baby duck in you has died
Push it out and F-word a duck
It’s a bad time to be a duck

Aus “Amargi Ve Moo”:

Chunks of your forearm
Chunks of your scalp
Chunks of your hunch
Now in a dumpster or in a sandwich
Your hairpiece perched upon your head
As if dropped from the ceiling by accident

 

Aus “Pumpkin Attack On Mommy And Daddy”:

If you wanted to be a human being
If you wanted to be a human being
If you wanted to be a human being
Then you just have to eat garlic?
You’re not my mom

Stewart zieht bei den Texten Inspiration aus einem breiten Spektrum: aus kulturell-religiösen Mythen, kunstgeschichtlichen Begebenheiten oder historischen Ereignissen.

Der konzeptuell klarste, aber auch verstörendste Titel ist  „Mary Turner Mary Turner“. Hier wird ein rassistisch-motivierter Lynchmord der allergrausamsten Sorte, welcher in Georgia in den 1930ern begangen wurde, geschildert. Deutliche Worte den südamerikanischen Konservatismus schließen die Darstellung ab:

Fuck your guns
Fuck your war
Fuck your truck
Fuck your flag

Girl With Basket Of Fruit ist das wohl experimentellste und gleichzeitig dunkelste Album von Xiu Xiu. Es ist ein nerven-strapazierendes Album, es ist aufrüttelnd, provozierend, niederschmetternd, zum Lachen, zum Weinen und wunderschön.

Anspieltipps: “Girl With Basket Of Fruit” & “Pumpkin Attack On Mommy And Daddy

Liturgy – H.A.Q.Q.

Lange wurden Liturgy für ihre esoterischen Interprationen von Black Metal als Spinner abgetan und hatten es unfairer Weise recht schwer, bei Fans Fuß zu fassen. Tatsächlich standen auf früheren Erzeugnissen Qualität und Struktur noch etwas hinter der Ambition zurück. Auf ihrem vierten Album H.A.Q.Q. haben die Amerikaner dafür alles in Einklang bringen können. Black Metal wurde hier soweit dekonstruiert, dass lediglich ein Skelet von Blast Beats, Tremolo Riffs und Vocals geblieben ist – der Rest lässt Raum für einen eigenen experimentellen Ansatz – und dieser kann sich wirklich sehen lassen!

Die ersten Sekunden des Albums leiten entfernt sirrende Synths ein, die schnell in harte Gitarrenriffs umschlagen. Zwei dissonant gespielte Blockflöten – ein Instrument, das ich bisher selten gut, angenehm oder geschmackvoll in einem Song erlebt habe – fügen sich in das Gedresche und erzeugen direkt eine obskure Atmosphäre. Es mischen sich chorale Gesänge dazu und heben den Sound in eine musikalische Sphäre, die ihre Bezeichnung transcendental Black Metal redlich verdient hat. Es ist beeindrucken, wie viele musikalische Elemente Liturgy auf diesem Album unterbringen, ohne es dabei zu überladen. Von besagten Blasinstrumenten, über eine Harfe, Glitch-Effekte, Glocken, Geigen, verschiedene ineinander schmelzende Gesangsformen bis hin zu modern-klassischen Klavier Interludes ist alles dabei.

Die drei ruhigen Klavierpassagen kontrastieren die härteren Stücke, sorgen für Pausen zum Durchatmen und lassen die Crescendi noch effektvoller wirken. Auf “GOF OF LOVE” hört man in den ersten Sekunden geschmackvolle Streicher und im nächsten Augenblick ist das Ensemble schon geschluckt von einem dreschenden Strom, der in aller Energie das volle instrumentelle Repertoire der Band entfaltet. Diese Umschläge von Klassik zu verkopftem Esoterikmetal und wieder zurück, geschehen derart sauber und professionell ausgeführt, dass sich H.A.Q.Q. im Hören überraschend geschlossen und konstant Spannungsgeladen anfühlt.

Der Albumtitel ist ein Akronym und bedeutet „Haelegen above Quality and Quantity“ und steht laut der Band für des Sängers, Hunt-Hendrix’s uniquely marxist and psychoanalytic vision of God”. Es überrascht wenig, dass bei derart grenzüberschreitenden Songs und bei Songtiteln wie „God of Love“ oder „Virginity“ ein gewisses „Konzept“ dahintersteckt. Pitchfork hat sich mit den verworrenen Ansätzen des ambitionierten Kopfs und Sängers der Band, Hunter Hunt-Hendrix, einmal genauer befasst und versucht, etwas Licht in’s philosophische Dunkel zu bringen. Für mich zählt am Ende die Musik und ich freue mich Bands zu sehen, die auf diesem Level neue musikalische Ideen an den Tisch bringen, welche für das ganze Genre wegweisend sein könnten. Auf H.A.Q.Q. kanalisiert sich das Potential von Liturgy in einem der erhebendsten Hörerlebnisse des Jahres.

Anspieltipps: “HAJJ” & “GOD OF LOVE


Michel Deter

Michael Kiwanuka – Kiwanuka

Wann benennt ein Künstler ein Album nach sich selbst? Wenn er sagen will: Schaut her, das bin ich! Genau das hat nun auch der Londoner Soulmusiker Michael Kiwanuka mit seinem dritten Studioalbum gemacht. Dass seine ersten beiden Alben Home Again und Love & Hate gut sein sollen, hatte ich schon öfters gehört. Trotzdem haben es seine Songs nie in meine Playlisten geschafft. Nachdem aber Anfang November dieses Cover in meinem Feed auftauchte, lud ich es runter und klickte auf Play. Was dann in den nächsten 40 Minuten folgte blieb im Ohr.
Gleich der erste Song ist ein Burner. Vielleicht DER Song des Jahres: „You Ain’t The Problem“. In diesem ermutigt Michael den Hörer zu sich selbst zu stehen, sich selbst zu akzeptieren. Im Album singt er über Selbstzweifel, der Suche nach dem Platz im Leben und neu gewonnener Leichtigkeit. Ein positiver Lebenssoundtrack, den uns der Sohn ugandischer Eltern hier serviert.
Das Album sollte man im Ganzen hören, von vorne bis hinten. Die musikalische Komposition entwickelt sich und reißt einen mit. Verzerrte Gitarren, schwirrende Streicher, aber auch sanftes Piano oder eine zupfende Harfe finden ihren Platz. Dazu die unverwechselbare, kratzige und warme Stimme von Kiwanuka. Das Ganze produziert vom Überproduzenten Danger Mouse, dessen Einfluss man im psychedelischen Retrovibe des Albums gut heraushören kann. Ein Vibe der nach Vergangenheit und Zukunft klingt, irgendwo zwischen Rock’n Roll der 60er und moderner Soulmusik. Einfach zeitlos gut. Bei jedem neuen Hören wird einem bewusster, dass hier möglicherweise ein ziemlich bedeutendes Werk mit einigen Hits geschaffen wurde.

Anspieltipps: „You Ain’t The Problem“ & „Final Days

Kanye West – JESUS IS KING

Um gleich zu Beginn dieser Rezension eine Beichte abzulegen: Vor diesem Album hat mich die Musik von Kanye West nicht im Geringsten interessiert. Rumms! Über Kanye himself hatte ich aber natürlich schon einiges gehört: Von seiner Sympathie für Trump, seinem großen Ego und seinem überteuerten Hype-Schuh Yeezy. Skandale, Randale, teure Sandale.
Genau deswegen war ich auch so verdutzt, als West am 25. Oktober ein Album unter dem Namen JESUS IS KING veröffentlichte. Als gläubiger Mensch kann man diesem Titel natürlich erstmal nur zustimmen. Aber was sollte sich hinter dem Albumcover mit der blauen Schallplatte verbergen?
Um erstmal musikalisch zu bleiben: Elf Tracks mit insgesamt nur einer halben Stunde Laufzeit. Die Instrumentals sind minimalistisch, kommen aber mit Wumms. Besonders die Unterstützung des Gospel-Chors („Every Hour“ & „Selah“) ist kraftvoll und erzeugt eine sakrale Atmosphäre. Auch die Samples auf „Follow God“ und „God Is“ überzeugen. Dazu rappt oder singt der Star, mal mit, mal ohne AutoTune. Worüber? Erstmal natürlich über sich. Über das vorschnelle Verurteilen der Christen, Streit mit seinem Vater und dass der Teufel im Besitz seiner Seele war.
Doch eigentlich geht es Kanye um andere Themen: Rettende Gnade, radikale Nachfolge und die Kraft Gottes. Kanye schwört der Kultur ab, welche er selbst geschaffen hat, in der er wie ein Gott verehrt wird. Er will sich nun ganz dem Verkünden des Evangeliums widmen, als Soldat Gottes.
Manche Songs auf dem Album wirken noch unfertig. Doch besonders bei Tracks, wie „Water“ oder „God Is“ will man die Arme hochreißen und Gott feiern. Nach mehrmaligem Durchhören bleibt natürlich ein Restzweifel, wie ernst es Kanye mit seinen Lobeshymnen auf den Schöpfer meint.
Es ist das Album eines Mannes, der nun voll und ganz seinem Glauben folgen will. Er muss die Botschaft weiterverkünden, krächzt er voller Passion bei „God Is“ ins Mikro. Mal schauen, welche Schlagzeilen wir in Zukunft vom radikal gläubigen Kanye lesen werden.

Anspieltipps: „God Is“ & „Use This Gospel

Anderson.Paak – Ventura

Ein Künstler, der während seinen freshen Rhymes auch noch tighte Drumbeats kickt? Say Hello to Anderson Paak! Seit seinem Album Malibu aus dem Jahre 2016 mit Hits wie „Come Down“ oder „Am I Wrong“ zählt dieser junge Herr mit dem fetten Dauergrinsen für mich zu einem der talentiertesten Künstler der aktuellen Musiklandschaft. Andy auf dem Schirm zu haben, hat sich auch dieses Jahr wieder ausgezahlt. Mitte April erschien sein viertes Studioalbum, nicht mal sechs Monate nach der eher enttäuschenden Platte Oxnard.
Auf Ventura aber erwartet Andy den Hörer mit einer souligen Portion Gute-Laune, wobei der Fuß ganz automatisch beginnt mit zu wippen. Der Bass blubbert auf und ab, die Keys funken intensiv und natürlich die groovigen Schlagzeuginstrumentals vom Man himself sind ein purer Genuss. Wer dazu nicht mindestens einmal pro Song das Gesicht vor lauter Tightness verzieht, sollte mal zum Ohrenarzt gehen.
Während Paak in den meisten Songs die Liebe besingt, wird er auf „King James“ politisch und thematisiert mit einem unerwarteten positiven Klang den schwarzen Widerstand. Überhaupt singt der 33-jährige mehr als noch auf seinen früheren Platten, besonders mit den Background-Vocals kommt da der Groove erst richtig ins Rollen. Der perfektionierte sexy Flow von Andy wirkt jedes Mal aufs Neue frisch und ansteckend. Dass dies auch live hervorragend funktioniert, durften die Besucher unzähliger Festivals auch diesen Sommer wieder erleben, bei denen Anderson.Paak gemeinsam mit den Free Nationals und seinen Background-Sängerinnen die großen Bühnen mit Funk und Soul versorgte. Das mal live zu erleben, steht hoch oben auf meiner musikalischen Wishlist. Bis dahin erfreue ich mich einfach weiterhin über die dicke Ladung Gute Laune in meinen Kopfhörern!
Keep on groovin‘!

Anspieltipps: „Reachin‘ 2 Much“ & „Jet Black


Peter Zeipert

Andy Stott – It Should Be Us

Andy Stott bittet zum Tanz. Materialbezogen wie eh und je, sind es allerdings nicht die proppenvollen Dancefloors, an die sich Stotts viszeraler Texturtechno richtet, sondern eher kleine, blickdicht zugenebelte Kellerlöcher und Soundlabore, in denen Soundshaping und magenzersetzende Bässe einen sinistren Pakt schließen. Stilistisch knüpft It Should Be Us dabei vor allem an Stotts 2011 erschienenes EP-Doppelgespann Passed Me By/We Stay Together an. Hatte deren dystopisches Wummern noch etwas zu verbergen und man das beständige Gefühl, dass da im Dunkel der Sounds noch etwas lungerte, geht Stott auf seinem neuesten Werk allerdings mit weniger unheilvoller Subtilität zu Werke und verleiht seinen zwar immernoch reichlich unscharfen Stücken mehr Greifbar- und Körperlichkeit. Schon durch den Opener “Dismantle” wuchtet sich so ein zerdehnter Bass und droht alles plattzuwalzen, was dumm genug wäre, sich in den Weg zu wagen. Diese Dicke, Zähflüssig- und Sättigkeit bestimmt auch das restliche Klangbild von It Should Be Us fast durchgehend. “Collapse” klingt so zum Beispiel wie es sein Name schon vorwegnimmt und hält damit eine signifikante Wirkung der Stottschen Musikformel fest: Die Musik des Engländers hören ist als würde man ein kolossales Gebäude in Zeitlupe beim Zusammenstürzen beobachten und auf den Trümmern tanzen – Techno im zeitlichen Zerrfeld, staubbesetzt, schwer und grau.

Anspieltipps: “0L9” & “Versi

Klein – Lifetime

Mit Lifetime liefert Klein ihr bis dato poliertestes und sortiertestes Album ab, was natürlich längst nicht heißt, dass es nicht zuallererst von einer Brüchigkeit geprägt wäre, die es an die Ränder des gemeinhin als konsumierbar Definierten drängt. Dabei wirkt es wie ein Januskopf: Einerseits als grenztraktierendes Reflektionsobjekt des Status Quo von Popmusik, andererseits als in Ton übergegangene Lebensspur seiner Schafferin, als ultimative Exekution eines popmusikalischen Index-Effekts. So wird Lifetime bereits in seiner Eröffnung durch das permanente Durchstechen unmittelbarer, das autonome Künstlersubjekt und dessen Ausdrucksweisen unterlaufender Geräuschquellen gekennzeichnet: Der Titeltrack ist ein kratzender, sich im Hörkanal festhakender
Drone, der es über stimmliche Abstraktion dennoch schafft, Intimität zu erzeugen. Das Besondere dabei: Klein verzichtet weitestgehend auf Gesang und setzt stattdessen auf Tonandeutungen und -ellipsen. Selbst im durchaus discotauglichen Überhit “Claim It” sind so nicht etwa herkömmliche vocals, sondern eine Mischung aus Husten, Röcheln und Keuchen zu hören. Und auch musikalisch läuft hier freilich herzlich wenig konventionell ab: Lifetime besteht überwiegend aus atonalen Geräuschkulissen und onirischen Soundcollagen, die das Prinzip Song aus den Angeln heben, aber bei genauem Hinhören phasenweise auch eine ästhetische Verwurzelung im RnB erkennen lassen. Vor allem aber wirkt es, als würde man von den ungefilterten, vor Ideen übersprudelnden Gedankenströmen Kleins regelrecht mitgerissen und Zeuge vom Entwicklungsprozess einer Künstlerin, die angetreten ist, das Wie und Was zeitgenössischer Popmusik gehörig auf die Probe zu stellen.

Anspieltipps: “Claim It” & “For What Worth (feat. Matana Roberts)”

Craig Leon – Anthology of Interplanetary Folk Music Vol. 2: The Canon

Wie eine vertonte Forschungsmission mutete Craig Leons 1981 begonnener und mit Anthology of Interplanetary Folk Music Vol. 1: Nommos/Visiting überschriebener Aufbruch in seinerzeit
tatsächlich sehr fremdartig daherschallende Klanggalaxien an. Nachdem er sich als Produzent von den Talking Heads, Ramones, Suicide, Blondie und Richard Hell derweil zeitvertreibenderweise in die New Yorker und allgemeine Musikgeschichte einschrieb, liefert der inzwischen 67-jährige Leon nun aus passenderweise heiterem Himmel gute 40 Jahre nach Nommos/Visiting mit The Canon dawardochnochwasmäßig ein den Sack zumachendes Sequel seines frühen Hauptwerks ab. Ursprünglich-tribalistisches Klöppeln und schwebende Science-Fiction-Synthies begründen dabei
ein dialektisches Verbundsystem. The Canon ist ein Kreisen um die Extrempunkte Primitivismus und Futurismus und wirkt wie ein paläontologisch ausgehobener musikalischer Schatz in
robotischer Ästhetik. Schon im bezeichnend betitelten Opener “Earliest Trace” offenbart sich diese Grundstruktur, sakrale Choräle schieben sich hier durch dichten Synthienebel. Nie hinterlässt Leons Weltallfolk den Eindruck, frei von menschlichen Spuren zu sein, immer wieder tauchen stammesähnliche und ritualistische Momente auf. Und nie wird Technik hier ohne Geschichte gedacht. Besonders vor dem Hintergrund, dass Leon auf The Canon dieselben Instrumente und Aufnahmegeräte wie auf Nommos/Visiting einsetzte, funktioniert seine anthropologisch akzentuierte Synthesizermusik wie eine zeitliche Klammer, die seine Anthology of Interplanetary Folk Music mustergültig vollendet.

Anspieltipps: “Standing Crosswise In The Square” & “Four Floods of the Point

Philipp Mantze

Black Midi – Schlagenheim

Es hat keine zwei Jahre gedauert bis sich Black Midi von einem Auftritt in der Brixton Windmill in London über einen im Internet hoch gefeierten KEXP-Auftritt bis zu ausverkauften Shows in den USA und Japan den Status einer Sensation erspielt haben.
Auch wenn der Name Black Midi, der sinnbildlich für Unhörbarkeit steht, nun etwas anderes vermuten lässt, kreiert das Math-Quartett durchaus zugängliche Musik (zugegeben, auch das mag sich beim erstmaligen Hören nicht ohne weiteres erschließen).
Mit dem exemplarischen „953“ wird ohne große Umwege direkt die Zielrichtung vorgegeben. Ein hektisches, lautes Gitarrenriff legt los, kurz darauf setzen die tausend Arme des unglaublich talentierten Drummers Morgan Simpson ein. Plötzlich unterbricht sich das Treiben, man glaubt die Platte hat einen Sprung und ist nun in einer Endlosschleife gefangen, bis sich der kurzzeitig kritische Zustand stabilisiert und in eine slintige, leicht bedrohliche Harmonie übergeht auf der dann auch (endlich) Sänger Geordie Greep mit seiner unverwechselbaren (und vielfach unverständlichen) Stimme einsetzt und mit seinen Aussagen gespaltene Persönlichkeit, Reue und starke Schuldgefühle vermuten lässt. Das raue Läuten der Gitarren wartet aber nur darauf sich wieder in den Vordergrund zu drängen, kurz darauf wieder in sich zu zerfallen und neu zusammensetzen, um schließlich in einem tempogeladenen zum Mosh-Pit einladenden Abschluss auszubluten.
Dieses wiederkehrende ’’Konzept’’ von schrägen, unberechenbaren Tempo- und Harmonienwechseln, das Parallelen von Slint über Swans bis Sleaford Mods, oder auch Videospielen, weckt, findet sich in vielen Songs wieder.
Nachdem „Speedway“ und „Reggea“ durchaus hörenswert , aber verhältnismäßig unauffällig sind, hauen die vier Jungs in „Near DT, MI“ einem in knapp zwei Minuten wieder alles um die Ohren, was sie mit ihrer jugendlichen Energie zu bieten haben: Nach brachialem Start beruhigt sich über der Stimme von Bassist Cameron Picton der treibende Gitarren- und Bassriff, während in geheimnisvoller, spannungssteigernden Stimmung über die Wasserkrise in Flint, Michigan zunächst gesprechsingt und schließlich geschrien wird, womit die Ruhe auch schon wieder ihr jähes Ende nimmt.
Ebenso umtriebig und abwechslungsreich geht es in „Western“ und „of Schlagenheim“ weiter, bis letzterer flugzeugstart-artig in das langersehnte „bmbmbm“ übergeht, womit Black Midi üblicherweise ihre Auftritte abschließen. Der wohl minimalistischste, aber gleichzeitig anziehungsstärkste Song des Albums, der im Hintergrund immer wieder die emotionalen Ausbrüche des britischen Pendants zu Michaela Schäfer, Nikki Grahame, dokumentiert.
Den mehr als würdigen und epischen Abschluss bildet „Ducter“, der wohl noch am Ehesten etwas besitzt, was man als eine Songstruktur bezeichen könnte.
Schlagenheim ist das womöglich beeindruckendste Debüt-Album einer (auch noch so jungen) Band seit Langem. Für 2020 ist bereits das nächste Album angekündigt und auch wenn man sich eigentlich mit Erwartungen zurückhalten sollte, machen diese vier Jungs es einem enorm schwer.

Anspieltipps: “953” & “bmbmbm

Horse Jumper of Love – So Divine 

Horse Jumper of Love sind eine dieser Bands deren Texte man sich anschaut und sich fragt: Was haben die geraucht? Oder bin ich einfach zu blöd um das zu verstehen? Auf ihrem neusten Album So Divine, das Juni diesen Jahres erschien, gibt es viele dieser Momente.
Nichts scheint Sinn zu ergeben, kaum hat man mit viel Wohlwollen zwei Zeilen gefunden, die Sänger/Gitarrist Dimitri Giannopoulos aus seinem Zwerchfell presst und halbwegs zusammenhängen könnten, wird die Interpretationsskala im nächsten Satz wieder um Welten nach oben verschoben. Nahe der Verzweiflung, aber immer noch so sehr von der Musik angetan, hörte ich genauer hin. Verstanden habe ich immer noch nichts, aber mir kam die Idee, dass es sich mehr um Erinnerungsschnipsel, Gedankenfetzen und unerhörterweise
mitgeschnittener Gesprächsbrocken handeln könnte, die nur im Kontext der Vergangenheit und ihrer gegenwärtigen, subjektiven Betrachtung Sinn ergeben. Eine Art Stream of Consciousness, der uns auf den Boden der Tatsachen zurückholt, dass unsere Gedanken mitnichten von uns gesteuert werden, sondern auftauchen und verschwinden, wie es ihnen gefällt. Überall dem haust dann wohl auch die Frage: Bin das alles ich?
Ähnlich ernüchternd, aber dennoch packend geht es auch musikalisch zu. Wie schon auf dem Vorgängeralbum haben Horse Jumper of Love, die aus Boston stammen, es mit Kontrasten, welche gerne neben lethargischen, tristen Slowcore-Melodien und explodierendem Noise-Alleszermalme wechseln, gerne auch als Crescendo verpackt, wie im starken Opener „Airport“.
Zwei Instrumentalstücke, „Twist Cone“, das eher mittig platziert ist, eine Art Übergang darstellt und in den vermutlich ’’fröhlichsten’’ Song des Albums (wenn man das so nennen darf) „Ur Real Life“ einführt, sowie das Outro „Heaven“, das genügend Raum bietet durch Milchglas das Album Revue passieren zu lassen, bringen eine konturenhafte Struktur in das Getümmel aus Gedanken, geraden und schiefen Noten und lassen zuweilen an Duster erinnern, die HJOL auch auf deren Reunion-Tour als Support begleiten durften (und hoffentlich auch in dieser Konstellation noch mal den Weg über den Atlantik finden).
Göttlich ist das Album möglicherweise nicht, aber es lässt einen gewiss gedankenversunken zurück, was definitiv ein hoher Verdienst ist.

Anspieltipps: “Airport” & “Poison

Deliluh – Beneath the Floors 

Experimente sind ja üblicherweise eine spalterische Angelegenheit. Deliluh, eine Ansammlung von Musiker*innen aus Toronto (CA), haben mit ihrem dritten offiziellen Release Beneath the Floors, dem 2018er Day Catcher und im Mai diesen Jahres Oath of Intent (was eine Art Zwilling zu ihrem neuesten Album darstellt) vorausgingen, ihrer Freude kreativen Austobens noch weniger Grenzen gesetzt. Während Day Catcher im großen und ganzen noch sehr post-punkig daherkam, kann Beneath the Floors stolz verkünden ein Genpool ungeheurer Vielfalt zu sein.
Während “Incantessa” und “Lickspittle A Nut in the Paste” noch sehr an die alten Zeiten vor einem Jahr erinnern und gut einheizen, wird es mit “Hymn” zunächst ruhiger, geheimnisvoller – eine Stimmung, die im Laufe des Albums auf die Spitze getrieben werden soll.
In „Hangmans Keep“ bleibt Sprecher/Gitarrist Kyle Knapp sich und seinem Sprechgesang weiterhin treu, erzählt Kurzgeschichte um Kurzgeschichte, während Piano und Schlagzeug einen Marsch ins höchst Ungewisse, aber letztlich doch Fatale assoziieren lassen, während die Violine ein dramatisches Klagelied darüber zieht.
„Master Keys dont break“ zitiert Kyle Knapp einen paranoiden Sicherheitsmann, der seinen Protagonisten in „Master Keys“ darstellt, welches zur Mitte des Albums einen letzten rasanten Höhepunkt bietet, bevor es in der Folge auf Talfahrt geht. „Falcon Scott Trail“ beispielsweise, ein reines Instrumental-/Ambientstück, soll, getragen von desorientierten Saxophonen und Geigen, auf albtraumhafte Weise die gescheiterte Südpol-Expedition der Briten Anfang des 20. Jahrhunderts darstellen, bei der nahezu alle (einschließlich Falcon Scott) gestorben sind.
Ein absolut starkes Ende, das an Joy Divisions „Decades“ erinnert, haben Deliluh mit dem Title-Track geschaffen: Die Geschichte über ein heruntergekommenes, unheimliches Hotel in dem sich sonderbare Dinge zutragen, hinzukommend die Drums, die einen paranoid werden lassen. Die Lage spitzt sich immer weiter zu bis Keyboard und Synthesizer einsetzen, alles überschatten und das Ende einläuten, das abermals Unheilvolles vermuten lässt.
Sowohl konzeptuell, als auch in Sachen Songwriting und Variation haben Deliluh mit diesem Album ein klares Statement gesetzt. Sie mögen den Begriff Musik nicht neu definiert haben, aber haben der musikalischen Landschaft ihren Stempel aufgedrückt, der sich weder großartig in den Vordergrund drängen muss, noch schnell verblassen wird.

Anspieltipps: “Hangmans Keep” & “Beneath the Floors

Willi Pencik

Das Lumpenpack – Eine herbe Enttäuschung

Das Lumpenpack veröffentlicht mit Eine herbe Enttäuschung ihr viertes Studioalbum. Das Album nimmt die passiv-aggressive Wut der „Millenials“ als Kernelement ihres Albums, wie das Duett selbst schreibt. Max Kennel und Jonas Meyer schaffen es mit jedem Song, dem Zuhörer ein Lächeln auf die Lippen zu setzen. Es beginnt mit „Hauch mich mal an“, in dem das lyrische Ich zu Personen geht, die seiner Meinung nach Schwachsinn reden und bittet diese, ihn anzuhauchen. Anhand des Mundgeruchs (der nach Alkohol oder Gras riecht) fühlt er sich bestätigt in seinen Annahmen zu den Personen, bis er schließlich stark alkoholisiert vor seiner Mutter steht und feststellt, dass er selbst genauso nach Alkohol riechenden Mundgeruch hat. Der musikalisch recht eintönige Aufbau des Songs wird vom Text wieder gut gemacht, wodurch das Gesamtpaket witzig-unterhaltsam ist. Diese trivialisierte Selbstironie zieht sich durch das ganze Album. So besingen sie, wie schlecht sie in „Kurzen Hosen“ aussehen und dass ihr Leben nur eine „7 von 10“ sei. Gerade der letztere Song behandelt, wie „Millenials“ immer enttäuscht sind von ihrem Leben, das ihnen nie genügend Spannung bieten kann, um wirklich interessant zu sein. Kennel und Meyers Lieder sind irgendwo zwischen Parodien und Hommagen auf das Alltagsleben einzuordnen. Sie greifen Geschichten auf, mit denen sich jeder mit-zwanziger identifizieren kann. Sie erzählen diese, nicht einmal unbedingt überspitzt, auf komödiantische Art und Weise, man merkt also, dass beide einmal Poetry Slammer waren. Ich kann dieses Album nur weiter empfehlen, hört rein in „Hauch mich mal an“ oder „Kurze Hosen“, um euch selbst von dem Album zu überzeugen!

The Lumineers – III

III ist das dritte Studioalbum der amerikanischen Indie-Folk band The Lumineers. Es erzählt die Geschichte dreier Charaktere, wobei die zentralen Themen der Songs Sucht und Abhängigkeit sind. Auf dem Album zu finden sind drei Lieder zu jedem Charakter, ein instrumentaler Song so wie drei Bonuslieder, die allerdings nicht zum Narrativ passen und dadurch herausstechen. Das musikalische Drama vermittelt auf unheimliche Weise mit seinen ausdrucksstarken Texten, wie Leben und Familien an Drogen zerbrechen. Zu jedem Song wurde ein Video gedreht, dass immer den Kontext zur Verfügung stellt und den Narrativen mehr Kraft gibt. Nicht ohne Grund war der Arbeitstitel des Albums Love, Loss and Crime: Akt eins erzählt die Geschichte von Gloria. The Lumineers zeigen sie wegen ihrer Alkoholsucht unfähig, sich um ihre Familie zu kümmern. Sie trinkt von früh bis spät Alkohol in einer solchen Menge, dass sie ihr Baby nicht mal mehr im Arm halten kann, was vor allem im Song „Gloria“ Thema ist. Teil zwei und drei des Albums behandeln Jimmy, Glorias Bruder, und seinen Sohn Junior. Junior leidet unter seinem Vater, der Partys veranstaltet, zu welchen Alkohol und andere illegale Drogen in großen Mengen konsumiert werden. Doch der Junge selbst ist kein unbeschriebenes Blatt, denn er geht mit Nikotin und Cannabis um. Jedoch sind die beiden sind ein untrennbares Duo, wie es im Song „Salt and The Sea“ erzählt wird und setzen sich bis zum Schluss für einander ein. Die Darstellung von Sucht ist den Lumineers äußerst gut gelungen. Zudem ist die Fusion aus Audio und Video reizvoll, die von Schultz und Fraites grandios umgesetzt wurde. Doch ohne die Videos gesehen zu haben, erschließt sich der Zusammenhang der Lieder, die an sich dennoch wundervoll traurig und melancholisch sind,nur bedingt. Ich lege es somit jedem ans Herz, mal in III reinzuhören und rate es, die Musikvideos auf YouTube zu schauen, damit man die emotionale Tiefe der Lieder nachvollziehen kann.

Marianas Trench – Phantoms

Die kanadische pop-rock Band Marianas Trench veröffentlicht mit Phantoms ihr fünftes Studioalbum, das zeigt was es heißt, von den Geistern der Vergangenheit verfolgt zu werden. Das Album beginnt mit einer Fanfare, „Eleonora“, die kraftvoll a capella in das Album hineinführt. Es folgt ein Lied, das musikalisch in eine Linie mit vielen anderen Popsongs fällt und nicht viel Abwechslung bietet. „Echoes Of You“ dagegen zeigt das Potential der Band. Dem Zuhörer wird mit symphonischem Rock ein großartiger Song geboten, der dadurch nicht langweilig wird, dass er zu den richtigen Zeitpunkten immer mit dem laufenden Rhythmus bricht. Dadurch wird den ganzen Song hinweg eine Spannung aufgebaut, die erst zum Schluss weit mehr als zufriedenstellend aufgelöst wird. Es folgen weitere Lieder, die leichtes Hörvergnügen bieten. „Don’t Miss Me“, „Wish You Were Here“und „Your Ghost” sind klassische Popsongs, die gespickt sind mit Elementen von „Echoes of You“. Diese kleinen Details, sowie das Einfließen von Elementen wie man sie aus dem Gospel kennt, lassen diese Songs etwas hervorstechen. Der letzte Song „The Killing Kind“, beendet das Album mit einem pompösen Finale. Hier schafft die Band es, einen abwechslungsreichen, spannenden Song zu präsentieren. Der Song nimmt Bezug auf „Eleonora“, der nun von vom vollen Ensemble angespielt wird, wodurch das Album in einem Crescendo endet, das einem Feuerwerk gleicht.  Phantoms ist für Fans von Pop und Softrock auf jeden Fall empfehlenswert. Für jene, die nicht unbedingt Pop hören, sind die Songs „Eleonora“, „Echoes Of You“und „The Killing Kind“ es wert, mal reinzuhören.