Das Jahr neigt sich langsam aber sicher wieder dem Ende entgegen. Wir haben für euch keine Mühe gescheut und vor den Feiertagen noch die musikalischen Höhepunkte des Jahres 2015 Revue passieren lassen. 10 Redakteure, 30 Platten – wir stellen euch unsere persönlichen Favoriten vor.

Ansgar Wagenknecht

Hodja – The Band
Wenn jede einzelne Komponente einer Band so gut ist, dass sie alleine das Highlight eines Albums sein könnte, dann ist weniger tatsächlich mehr. Hodja untermauern diese These eindrucksvoll und landen damit die größte Überraschung des Jahres. Das Trio reduziert seinen Blues, Soul und Rock’n’Roll auf’s Äußerste. Schlagzeug, Gitarre, Stimme – mehr brauchen Hodja auf The Band nicht. Während Gitarrist Tenboi Levinson staubtrockene Riffs und Südstaatenrhythmen abfeuert oder sich entspannt in den Blues zurücklehnt, stacheln sich Schlagzeuger Matthias Klein und Sänger Claudius Pratt zu gegenseitigen Höchstleistungen an. Letzterer verziert Hodjas Blues-, Rock, -und Soulgerüst mit einer ordentlichen Prise Wahnsinn. Pratt leidet, kratzt, beschwört und schreit wie besessen in sämtlichen Tonhöhen und – tiefen oder singt so beruhigend, dass man vor Staunen gar nicht weghören kann. Muss man zum Glück auch nicht. Der Nachfolger zu The Band soll schon im nächsten März erscheinen.
Anspieltipps: „Wool Sweaters“ & „Devil On My Back“

Vierkanttretlager – Krieg und Krieg
Vierkanttretlager brechen mit Krieg und Krieg aus dem nebelig-grauen Indierock ihres Debütalbums aus. Ihre zweite Platte bietet eine musikalische Vielseitigkeit, die man der Band nicht zugetraut hätte. In seinen lauten Momenten klingt das Album wütender, in den leisen Augenblicken noch nachdenklicher als sein Vorgänger. Wurden im instrumentellen Bereich Experimente eingegangen, besinnen sich Vierkanttretlager textlich auf die gewohnte Stärke von Sänger Max Leßmann. Krieg und Krieg beschreibt mittels eines Protagonisten in zehn Liedern die Unfähigkeit der Menschheit zum Frieden zu gelangen. Als besonders stark erweist sich dabei Leßmanns Gesang. Mit seiner ohnehin charismatischen Stimme verleiht er seinen Gedanken noch mehr Gewicht als auf dem Debütalbum. Obwohl nicht alle Neuerungen gut funktionieren, beweist Krieg und Krieg, dass Vierkanttretlager eine der interessantesten Bands des Landes sind.
Anspieltipps:„Krieg und Krieg“ & „Der letzte Satz der Welt“

Freiburg – Brief & Siegel
Hat sich eine Band dem deutschsprachigen Punk-Rock verschrieben, hat sie es stets schwer, zwischen einer Hand voll Vorreiter-Bands mit eigenen Besonderheiten herauszustechen. Freiburg liefern 2015 dafür ein Paradebeispiel. Vom Sound über Songstrukturen bis hin zum Gesang erinnert Brief und Siegel an den Genre-Primus Turbostaat. Die Lieder der Platte klingen, als hätte man die ausgefeilten letzten drei Turbostaatalben mit der ungestümen Energie der ersten beiden gepaart – kurz gesagt: Verdammt gut! Mit altbewährten Elementen der besagten Band sowie Emo- und Hardcore-Einflüssen kreieren Freiburg eine düstere Atmosphäre, die den Hörer zehn Songs lang nicht loslässt und sich auch darüber hinaus in den Köpfen festsetzt. In einem Jahr ohne Turbostaat-Platte gelingt es Freiburg, mächtig Eindruck zu schinden. Brief und Siegel ist ein Liebesbeweis an das Genre und Freiburg eine Band, die das Zeug hat aus dem Windschatten der Großen zu treten.
Anspieltipps: „Sommer, Roggen und Er“ & „Kanüle abwärts“

Christin Liese

Soko – My Dreams Dictate My Reality
Die Französin Sokolinsky aka Soko hat ihren mädchenhaften Folk-Schatten hinter sich gelassen und widmet sich mit ihrem zweiten Studioalbum My Dreams Dictate My Reality der dunklen Seite von Post-Punk, New Wave und Pop. Nachdem sie mit „I kill her“ die deutschen Charts eroberte und im letzten Jahr mit dem Soundtrack zum First Kiss Video ihre zerbrechliche und gefühlvolle Seite zeigte, legt sie in ihrem Debütnachfolger ihr naives Image ab. Musikalisch ist aus dem kleinen Mädchen eine Endzwanzigerin geworden, die über Identitätsprobleme, Herzschmerz und die Angst vor dem Erwachsenwerden philosophiert. Die Transformation zeigt sich zudem im Sound: der Folk ist dem 80er Pop und Post-Punk gewichen, die Lyrics werden hart und rotzig, dann doch sanft und emotional gesungen. Der neue Soko-Klang wird The Cure oder New Order Fans in seinen Bann ziehen. Dies kommt nicht von ungefähr – Produzent der Platte ist Ross Robinson, der bereits für zwei Alben mit den Briten von The Cure zusammenarbeitete.
Anspieltipps: „Peter Pan Syndrome“ & „Who Wears The Pants??“

Fatoni & Dexter – Yo, Picasso
Neben amerikanischen Hip-Hop-Größen können die talentierten Künstler Deutschlands schnell überhört werden. Vollkommen zu Unrecht, so ist Yo, Picasso eine der gelungensten Platten des Jahres. „Scheiß auf Authentizität, ich will einfach nur ich selbst sein“ trifft so ziemlich das Motto des Kollabo-Albums von Fatoni und Dexter. Trifft der Münchner Rapper auf den Stuttgarter Hip-Hop Produzenten, kommt es zur nahtlosen Kernfusion, die abgestrahlte Energie flasht die Hörer. Während Dexters Beats zwischen dem vertrauten Jazz-Saxophon und klatschendem Trap variieren, lässt sich Fatonis Stimme federleicht in die Schallwellen fallen. Ein Sample von Outkasts “Ms. Jackson” und das Feature „Kann nicht reden ich esse“ mit Deichkinds Kyptik Joe verleihen dem Album eine frische und gleichzeitig beruhigende Note. „Ich denk „Shit ich werd nie wie Mike Skinner““, und das müssen sie auch nicht. Deutschrap mit Köpfchen, einem verschmitzten Lächeln und dem Realness-Faktor, ohne einen auf „real“ zu machen.
Anspieltipp: „Kann nicht reden ich esse“

Chilly Gonzales – Chambers
Wir bitten zum Tanz! Das Hamburger Kaiser Quartett und Chilly Gonzales haben einen wilden Walzer des Kammer-Pops namens Chambers kreiert. Ist man von Gonzales auch elektronische Klänge, sowie Pop und Hip-Hop-Einlagen gewohnt, so zeigt er sich erneut von seiner sanften Seite und liefert einen Nachfolger seiner Solo Piano -Alben. Der erste Titel namens „Prelude To A Feud“ lässt erahnen, dass der Zwiespalt das Leitmotiv des Albums ist. So fließt der Song „Sweet Burden“ butterweich und doch herzensschwer ins Ohr und streichelt dabei die Seele – eine schöne Last eben. Bei Chambers handelt es sich keinesfalls um ein beliebiges „altbacken“ Klassikalbum. Gonzales gewohnte Lässigkeit, kurze Songs und schnell eingängige Melodien, gepaart mit perfekt gezupften Saiten des Streichquartetts, erschaffen moderne und zugängliche Klassik. In nur 39 Minuten ergibt sich ein harmonisches Album, dass den Spagat zwischen Tradition und Moderne mit Bravour meistert.
Anspieltipp: „Sweet Burden“

Theresa Peters

Zugezogen Maskulin – Alles brennt
Mit Alles brennt bescheren uns Grim104 und Testo aus dem Hause Buback das Deutschrap-Album des Jahres. Mit einer Prise Arroganz und einem Hauch von Swag zeigen sie dem Rest der deutschen Hip-Hop-Landschaft gehörig, wo es lang geht. Getragen von gnadenlosen Beats sprechen sie das aus, was viele nur andeuten oder niemals auch nur in den Mund nehmen würden. Textlich könnte sich Alles brennt nicht aktueller gestalten. Fremdenfeindlichkeit, Asylproblematik, Nationalismus aber auch Gentrifizierung wissen Zugezogen Maskulin gekonnt auf den Punkt zu bringen. Wer ein entspanntes Heile-Welt-Album sucht, ist hier fehl am Platz. So tönt es in „Oranienplatz“: „Wir haben viel zu viel um euch was abzugeben“ – diese Ironie ist stückweise so deutlich, dass es wehtut. Aber das ist auch gut so. Allein dafür sollten wir Grim104 und Testo auf einem ihrer Konzerte in die Luft heben und einfach DANKE sagen.
Anspieltipps: „Oranienplatz“ & „Alles brennt“

Jamie xx – In Colour
„Oh my gosh!“ – Es begrüßt uns der Sound des Sommers. Er nimmt uns in den Arm, weil wir dank ihm die ganze Nacht durchgetanzt haben und im Morgengrauen nach Hause taumeln oder wenn wir einfach nur mit dem Fahrrad durch die Stadt unseres Herzens fahren. Diesen Soundtrack auf das Leben liefert dieses Jahr der Londoner Jamie Smith, besser bekannt als Jamie xx, Haus- und Hof-Produzent von The xx. Über fünf Jahre hat er uns auf sein Solodebüt In Colour warten lassen. Absolut tanzbare, teilweise hypnotische, hymnenhafte, elektronische Musik gepaart mit Elementen aus House, US-Hip-Hop und zahlreichen Samples. Dabei dürfen zwei nicht fehlen: Romy Madley Croft und Oliver Sim, Smiths Freunde und Bandkollegen von The xx. Ihnen überlässt Smith auf drei Tracks das Singen. So auch in „Loud Places“, wenn uns Crofts unverkennbare Stimme mit „I go to loud places/ to search for someone/ to be quiet with“ empfängt. Auf In Colour werden so die Emotionen einer gesamten Generation zusammengefasst – als die Suche nach dem großen Ganzen.
Anspieltipps: „Gosh“ & „SeeSaw“

Ibeyi – Ibeyi
Zwillingen sagt man ja eine außergewöhnliche zwischenmenschliche Verbindung nach. Genau das ist auch auf Ibeyis selbstbetitelten Debüt spürbar. Die französisch-kubanischen Zwillingsschwestern Lisa-Kaindé und Naomi Díaz vereinen Soul, R’n’B, Electronica, Folk aber vor allem auch afro-amerikanische Elemente auf bisher unbekannte Art und Weise. Dem verleihen die beiden Ausdruck, in dem sie teilweise auf Yoruba singen, eine aus Nigeria stammende Sprache, die unter den Sklaven Kubas stark verbreitet war. Melancholisch, aber auch mystisch und herzzerreißend öffnen sie sich ihren Zuhörern. „Yanira“ ist beispielsweise ihrem verstorbenen Vater gewidmet, einem ehemaligen Mitglied des Buena Vista Social Clubs. Musikalisch hat es den Anschein als wollten sich Ibeyi mit ihrem Debüt so gar nicht festlegen. Aber genau dieser Variantenreichtum lässt Ibeyi auch so überzeugen.
Anspieltipps: „River“ & „Yanira“

Alexander Rumpf

Waxahatchee – Ivy Tripp
Mit 38 Minuten ist Ivy Tripp das bisher längste der drei Alben der Songwriterin Katie Crutchfield aka Waxahatchee geworden. Bemerkbar macht sich das nicht: Die neuen Songs sind im Vergleich mit früheren Werken verhältnismäßig flott und ziehen dadurch wie auf einem Trip an einem vorbei. Textlich beschreibt Waxahatchee ein Gefühl zwischen Aufgeben und Weitermachen an der Grenze zum Beziehungsende. Besonders deutlich wird dies in „La Loose“, dem prägnantesten Song des Albums. Mit Drum-Machine und Synthesizer reichhaltiger instrumentiert als der Rest der Platte, erzählt er vom unausweichlichen Ende einer Beziehung, das von der Protagonistin konsequent verleugnet wird. „And I’ll try to preserve the routine/ And I don’t want to discuss what it means/ And you’re the only one I want watching me“ singt Crutchfield, mit einem Gesichtsausdruck irgendwo zwischen naiv-verlegen und kurz vor dem Zusammenbruch. Während der Efeu in der Blumensprache ein Symbol für Liebe und Treue ist, steht er in Ivy Tripp für ein wütendes, verzweifeltes Festklammern an einer längst gescheiterten Idee. Wie Crutchfield diese Gedanken mit erfrischender Ehrlichkeit vorträgt, ist schlicht meisterhaft.
Anspieltipps: „La Loose“ & „Summer of Love“

Ezra Furman – Perpetual Motion People
Perpetual Motion People ist das dritte Ezra Furman-Album seit der Auflösung seiner Band The Harpoons, und das sechste insgesamt. Wieder einmal geht es um die bewährten Themen Depression, Alkohol und die Fehler der modernen Gesellschaft, aber seit seinem letzten Album hat sich einiges geändert: Der 29-Jährige outete sich vor zwei Jahren als queer und tritt seitdem auch in Frauenkleidern an die Öffentlichkeit. Zu sehen ist das beispielsweise in den beiden Videos zu „Restless Year“ und „Body Was Made“, wobei man ersteres leicht zum besten Musikvideo des Jahres küren kann. Furmans große Gabe ist und bleibt die Metaphorik, die auch diesem Album die besten Momente beschert. Eine Phase schwerster Depression mit unterdrückten Suizidgedanken beschreibt er beispielsweise als „like an astronaut cut from the ship/ floating and waiting to die“. Schön anzuhören ist das Album, das irgendwo zwischen Indie-Rock, Punk und Doo-Wop balanciert, auch noch und zementiert Furmans Ruf eines exzellenten Songschreibers.
Anspieltipps: „Ordinary Life“ & „One Day I Will Sin No More“

Twenty One Pilots – Blurryface
Auf Blurryface fanden sich Twenty One Pilots in der schweren Rolle, einen Nachfolger zu einem von Fans gefeierten Debüt abzuliefern. Mittlerweile kann man sagen, dass ihnen dies geglückt ist: In weniger als 6 Monaten hat sich der Zweitling doppelt so oft verkauft wie der Vorgänger. Konzeptionell beschreibt Sänger Tyler Joseph auf dem Album die fiktive Person Blurryface, die „für alle Unsicherheiten und Ängste steht, die er als Individuum, aber auch alle anderen hätten“. Was erstmal schwammig klingt, wird auf Tracks wie „Doubt“ brillant umgesetzt und erzeugt eine düstere, kraftvolle Grundstimmung. Gleichzeitig versuchen sie, die ganze Sache nicht zu ernst werden zu lassen: So beklagt sich Joseph über den fehlenden Bezug der Lyrics zur Musik oder entschuldigt sich für die ein- oder andere Textzeile. Albern oder tatsächlich unsicher? Die dazu (nicht?) passende und mannigfaltige Instrumentierung macht Blurryface jedenfalls zu einer der unterhaltsamsten Platten des Jahres.
Anspieltipps: „We Don’t Believe What’s On TV“ & „Heavydirtysoul“

Lara Bühler

Asbjørn – Pseudo Visions
Der blonde Junge aus Dänemark weiß sich nie so recht zu entscheiden zwischen Melancholie und dem Drang zu Tanzen, zwischen Wirklichkeit und Traum. Man soll sich fragen, ob das, was man gehört hat, tatsächlich real war, beschreibt Asbjørn seine Idee einer “Pseudo Vision”. Genau diese Unentschlossenheit thematisiert er in seinem 2015 erschienenen Album, zu dem er im Vorfeld mehrere gleichnamige EPs veröffentlichte. Asbjørns Visionen sind komplex, durchproduziert und nicht unbedingt leicht zugänglich, regen aber zweifellos dazu an, das Tanzbein zu schwingen. So vereint der Däne in Pseudo Visions Pop, Indie-Elemente und Elektronica auf hohem Niveau. Eingespielt hat er dabei jedes Instrument selbst, wohl um die autobiografischen Teile mit mehr Gefühl füllen zu können. Diese Emotionalität verleiht den Songs Tiefe, statt sie in die Schiene des oberflächlichen Pop entgleiten zu lassen.
Anspieltipp: „Kiddo“

Sizarr – Nurture
Nachdem die Bandmitglieder von Sizarr bei dem Release ihres ersten Albums gerade mal die Volljährigkeit erreicht hatten, merkt man bei Nurture deutlich, dass sie erwachsener geworden sind. Sie mischen Rock mit Soul- und Reggae-Elementen, alles unterlegt von dem typischen Gitarrensound, der mit Synthies ergänzt wird. Ein klarer Einfluss der 80er ist zu hören. Sizarr schaffen es, die Melancholie und die Aufbruchstimmung weiterhin beizubehalten, bleiben dabei aber auch speziell und aufregend. Zwar singen Sizarr noch von der Teenage Angst, doch scheinen sie diese schon überwunden zu haben. Einzig und allein Anspielungen, wie „Could you pick me up from school today / my mom made some lunch for two“ aus ihrem Song “Baggage Man”, lassen ironisch auf ihr Alter schließen. Die tiefe und reife Stimme von Sänger Fabian Altstötter geht dabei sofort ins Ohr und bleibt dort auch mit einem großen Wiedererkennungswert hängen.
Anspieltipp: „Baggage Man“

The Slow Show – White Water
Manchester hat ein Kind hervorgebracht, dessen Klänge weit weg vom klassischen Brit-Pop verlaufen. The Slow Show klingen nach Americana und machen ihrem Namen dabei alle Ehre: Langsame, getragene Melodien dominieren das Debütalbum White Water. Durch Streicher und Bläser erhalten die Songs Tiefe, Chorgesänge schenken ihnen Lebendigkeit. Diese Lieder erzählen vom Tod, wie der Song „Brother“, von der Liebe, oder dem Leben, wie der Song „Dresden“. The Slow Show schreiben Hymnen, staffieren sie mit Trauer und Ernsthaftigkeit aus. Die Lieder auf White Water sind keine einfache, leichte Gute-Laune-Musik. Zu dieser Grundstimmung trägt auch der Bariton des Sängers Rob Goodwin bei, die den Songs die nötige Wärme verleiht. Er scheint eher Geschichten zu erzählen als zu singen. The Slow Show muss sich als neues Kind Manchesters auf keinen Fall hinter Größen wie The Smiths oder ihren klanglichen Brüdern von The National verstecken.
Anspieltipps: „Dresden“ & „Brother“

Maria Posselt

Beirut – No No No
No No No, die vierte Platte von Zach Condon alias Beirut, klingt nach allem, nur nicht nach der musikalischen Verarbeitung eines psychischen Zusammenbruchs. Doch genau solch einen, sowie Schreibblockaden und Beziehungsprobleme, arbeitet Condon auf dem neuen Album auf. Und dennoch: Positiver denn je überzeugen Beirut mit leichtfüßigem, modernen Pianopop. Die teils obskure, ausgeklügelte Instrumentierung der letzten Alben wurde von der klassischen Besetzung, bestehend aus Bass, Gitarre, Schlagzeug und Piano, abgelöst. Selbst das Lieblingsinstrument Condons, die Trompete, kommt nur noch ganz gezielt zum Einsatz. Das Ende, sowohl persönlich als auch musikalisch, ist für diese Platte wortwörtlich der Anfang. Ironischerweise beginnt die Platte ausgerechnet mit und in „Gibraltar“, einer Stadt, welche im Mittelalter als Ende der Welt galt. Trotzdem: Für Depression bleibt auf diesem Album kein Platz. Es bringt den Frühling in die kalte Jahreszeit.
Anspieltipps: „Gibraltar“ & „August Holland“

Courtney Barnett – Sometimes I Sit And Think, And Sometimes I Just Sit
Auf Sometimes I Sit And Think, And Sometimes I Just Sit besingt Barnett Geschichten aus dem ziellosen Leben einer Mittzwanzigerin, die in den meisten Fällen realen Begebenheiten entwachsen sind. Nicht selten fällt sie dabei mit lauten, grungigen und schroffen Riffs direkt mit der Tür ins Haus. Ihr eher monotoner, etwas gleichgültig klingender Sprechgesang bildet wider der Erwartung einen stimmigen Kontrast zu der Klangkulisse. Die Alltagslyrik der Songs und Barnetts innere Monologe sind authentisch und sympathisch. Trotz der textlichen Banalität verkörpert sie nicht das naive, niedliche Mädchen von nebenan. Durchschnittlicher Sex, die Vorzüge von Bio-Lebensmitteln, und ausgestopfte Kängurus gehören zur Realität, die sie schildert und die zunächst äußerst leichtfüßig daherkommt, nicht jedoch ohne einen bitteren Beigeschmack von Verzweiflung. Nie wurde der Alltag, den wir lieben und hassen, den wir meistern und an dem wir scheitern, so charmant besungen wie durch Courtney Barnett.
Anspieltipps: „Depreston” & „Pedestrian At Best“

Motorama – Poverty
Mit Poverty beweisen Motorama, pünktlich zu ihrem zehnjährigen Bandbestehen, ein ums andere Mal, dass qualitativ wertvoller Post Punk und Shoegaze nicht nur aus Manchester kommen müssen. Zweifelsohne erinnert das russische Quintett mit ihren melodischen Gitarrenriffs, den Synthesizern und der tiefen Stimme von Sänger Vlad Parshin an den Synthiepop der 80er. Die Einflüsse von britischen Bands wie Joy Division und New Order sind somit auch auf der dritten Platte der Band unverkennbar.
Der neue, dunkle Klangteppich, der einen Gegensatz zum hellen Sound der ersten beiden Alben bildet, steht Motorama unglaublich gut. So glänzt Poverty nicht zuletzt durch düstere und melancholische Textkompositionen, sondern auch durch den Einsatz neuer musikalischer Elemente, wie einer Orgel in „Dispersed Energy“. In „Old“, dem Geheimtipp der Platte, ziehen Motorama das Tempo kurz vor Ende nochmal an. Alles elektrisiert, das Tanzbein schwingt.
Anspieltipps: „Old” & „Heavy Wave“

Miriam Fuß

Lemur – Geräusche
Lemur aka Benny machte bereits als Teil des Rap-Duos Herr von Grau von sich reden. 2014 trennte er sich von seinem Kumpanen Kraatz und erfreute uns dieses Jahr mit seinem ersten Soloalbum. Geräusche erschien beim Label Kreismusik, eine gelungene One-Man-Show die leichtfüßig alles niedertrampelt, was sich ihm in den Weg stellt. Sein Debütalbum hat der Rapper in kompletter Eigenregie aus dem Ärmel geschüttelt – Texte, Beats, Aufnahme und Mixing alles aus einer Hand. Die abwechslungsreichen Beats und Bennys überzeugende Reime sollten jedem Herr von Grau-Fan mindestens ein Trost sein, denn das Album präsentiert sich unkonform und musikalisch mutiger als alles was wir bisher ihm gehört haben. In 14 Tracks rappt Lemur u.a. über Waffengewalt, Konsumwahnsinn, Kekse und Stimmen im Kopf, dunkle Themen überschattet von böser Ironie, mit einem sanften Arschtritt in die Hör- und Denkgewohnheiten seiner Mitmenschen.
Anspieltipps: „Du brauchst“ & „Befehlskette“

God Is An Astronaut – Helios / Erebus
God is an Astronaut machen Musik zum Hinhören, obwohl sie fast ohne Stimmen auskommt. Das Album der irischen Post-Rock-Band Helios / Erebus ist nach den griechischen Göttern der Sonne und der Finsternis benannt, und klingt dabei nach düsterem Himmel und dem kitzeln der Sonnenstrahlen, die hin und wieder hinter den Wolken hervorblitzen. Musikalisch lebt die Platte vom Kontrast zwischen Zartheit und Ekstase, sehnsüchtigen Melodien und harten Riffs. Getragen von Heavy-Metal Elementen, wunderschönem Piano und Gesang und fetten Synthies weiß der Zuhörer nie so richtig, wo er sich befindet und was der breite Klanghimmel der Iren ihm als nächstes bietet. Die gekonnt inszenierten Übergänge und Steigerungen sind das was God is an Astronaut verstehen, und Helios / Erebus für Post-Rock Fans unverzichtbar macht. Das Album birgt eine elektrisierende Spannung, begleitet von der Erkenntnis, dass sich Licht und Dunkel so nah sind und Melancholie ein schönes Gefühl ist.
Anspieltipps: „Vetus Memoria“ & „Pig Powder“

Troyka – Ornitophobia
Das progressive Jazz-Trio Troyka hat sich mit einem neuen Album zurückgemeldet. Nachdem die Band 2014 den Parliamentary Jazz Award abgestaubt hat überzeugen sie dieses Jahr mit ihrer fünften Platte: Ornitophobia. Die Londoner Musiker fesseln uns mit faszinierenden und überraschenden instrumentalen Klängen weit Abseits des Mainstream. Besonders die ersten Songs des Albums fordern auch jazzliebende Ohren mit polyrhythmischer Raffinesse und rasanten Harmoniewechseln heraus. Doch im Laufe des Albums zeigt sich eine ungeahnte Empathie, das Hörerlebnis wird harmonischer, ohne dabei an Anspruch zu verlieren. Charakteristisch für Troyka ist die Hammondorgel, die neben Keyboard, Gitarre und Drums zum Einsatz kommt und für einen kraftvollen und außergewöhnlichen Sound sorgt. Das Trio vereint drei herausragende Musiker, die mit ihrer neuen Platte für Gänsehautfeeling und Aufatmen sorgen, wenn sich die strapaziösen Klänge schließlich zu einem selten schönen Ganzen zusammenfinden.
Anspieltipps: „Ornitophobia“ & „The General“

Myles Cook

Father John Misty – I Love You, Honeybear
A former member of indie-folk stalwarts Fleet Foxes, Josh Tillman previously released a slew of solo albums which, by his own admission, were overwhelmingly miserable. The release of 2012’s Fear Fun, under new moniker Father John Misty, brought not only a name change but also a profound switch in lyrical and musical style. Gone were the maudlin tones of his earlier work. Instead, fuelled by the newfound freedom of his alter-ego, Tillman began creating music with intense personal honesty, at once both lyrically complex and musically accessible. If Fear Fun began this transition, I Love You, Honeybear represents its completion. Whilst essentially a declaration of love, the album never gets stuck in self-indulgent mire; at once, it switches from passion to cynicism, from tender-love to bitterness. Yet despite the emotional rollercoaster, the album is profoundly listenable: even without its lyrical beauty, Tillman’s skill as a melodist and instrumentalist alone would make this one of the best albums of the year.
Anspieltipps: „I Love You, Honeybear“ & „Bored In The USA“

Nils Frahm – Victoria O.S.T.
2015 was a busy year for Nils Frahm. As well as touring throughout Europe and inaugurating ‘Piano Day’ with a surprise solo album, 2015 also saw the release of his first motion picture soundtrack, for Sebastian Schipper’s multi-award winning Victoria. Frahm had said in the past that he would only score a film which truly spoke to him, and in Victoria he appears to have found that match. Being awarded an unusual amount of creative freedom, Frahm improvised and recorded the score with a select number of guest musicians, as the film was looped repeatedly infront of them. The result is a soundtrack which is at once both as beautiful and powerful as the film it supports. It’s a piece which is undoubtedly more sparse and ambient than his previous releases, as might be expected of the soundtrack to an intensely visual film. However, the subtle inclusion of additional musical elements – the sneaking cellos on “Our Own Roof”, for example – adds enough texture and suspense for the album to easily hold its own.
Anspieltipps: „On Our Own Roof“ & „Them“

Courtney Barnett – Sometimes I Sit and Think, And Sometimes I Just Sit
To say that Courtney Barnett’s debut was hotly anticipated would be an understatement. After releasing two widely acclaimed EPs in 2013, there was an excruciating two year wait before the arrival of Sometimes I Sit and Think, and Sometimes I Just Sit. On first listen, Sit isn’t especially accessible. It’s a record which needs several listens in order to really be appreciated. Maybe that’s because of the sheer depth and density of Barnett’s lyricism; every song is steeped in so much wit, in such impossible detail, that it could be analysed almost infinitely. Barnett delves head-first into the everyday, and somehow pulls out observations that perfectly encapsulate the wrangling of everybody navigating their mid-twenties (and beyond…). Yet somehow, Barnett achieves this depth of observation in way which sounds utterly effortless, almost off-the-cuff. Rather than sounding like an angsty moan, Barnett delivers an album which is addictive, funny, and impossibly relatable.
Anspieltipps: „Depreston” & „Pedestrian At Best“

Stephan Thiel

Oneohtrix Point Never – Garden of Delete
Daniel Lopatin alias Oneohtrix Point Never vollzieht mit seinem Album Garden of Delete einen weiteren Wandel und entzieht sich somit wieder der Kategorisierung. Dennoch trägt auch dieses Album seine Handschrift. Er schafft Klangcollagen; nutzt Synthesizer, Samples und Töne mehr wie Farben und Texturen als Noten. Diesmal spielt er mit dem Realitätsverständnis und gaukelt Instrumente und Stimmen vor, die sich allesamt im akustischen Uncanny Valley befinden. Der Hörer wird dazu gezwungen, sich mit der Grenze zwischen computergenerierten und real aufgenommen Tönen auseinander zu setzen. Thematisch arbeitet Lopatin seine Touren mit Nine Inch Nails und Soundgarden auf und reflektiert dabei einerseits die strikt durchgeplanten Auftritte, andererseits auch aktuelle Trends der elektronischen Mainstream-Musik. Garden of Delete ist stringenter und vielschichtiger als seine Vorgänger, bleibt aber seinen Wurzeln aus Noise und Ambient jedoch treu.
Anspieltipps:„Ezra“ & „I Bite Through It“

Lianne La Havas – Blood
Nach ihrem Debütalbum 2012 verfolgte Lianne La Havas ihre familiären Wurzeln und ließ sich von griechischer und jamaikanischer Kultur inspirieren. Anschließend nahm sie ihr zweites Album Blood auf. Das Album zeichnet sich durch seine Leichtigkeit aus, hat jedoch teils auch verträumte oder melancholische Abschnitte. Alle Songs verschmelzen dennoch fast nahtlos zu einem großen Ganzen. Thematisch widmet sich Blood der Liebe und den Wurzeln von La Havas, die wie auch beim Debüt, mit ihren Texten überzeugen kann. Der große Unterschied zwischen den beiden Alben ist jedoch ihre Stimme. Zwischen den Alben vollzieht sich hier eine deutliche Entwicklung. Was zuvor ein grob bearbeiteter Diamant war, ist jetzt wesentlich feiner und genauer geschliffen. Trotzdem ist weiteres Potential vorhanden – die Politur fehlt. Das Album zeigt, in welche Richtung die Entwicklung gehen kann und macht damit umso mehr Hoffnung für die Zukunft.
Anspieltipp: „Midnight“

Tame Impala – Currents
Neue Instrumente, Altes Gefühl – So könnte sich das Album Currents von Tame Impala zusammenfassen lassen. Kevin Parker – Frontmann und Studioeremit – der in Eigenarbeit alle bisherigen Alben komponiert und produziert hat, wechselt in Currents das zentrale Instrument und ersetzt die Gitarre größtenteils durch diverse Synthesizer. Generell entfernt sich das Album weit von den psychedelischen Anfängen Tame Impalas und hat wesentlich mehr Pop-Einflüsse als die beiden Vorgänger. Trotzdem bleibt es unverkennbar ein Album, das Kevin Parkers Signatur trägt und doch neue Wege geht. Die Platte ist mit unverschämt crispen Drums neben Synthesizern, Bass und Gitarre, die miteinander harmonieren ohne zu ringen, unglaublich gut abgemischt. Über allem thront seine Stimme, die sich dennoch einpasst und die Grenze zwischen Gesang und Synthesizer manchmal verschwimmen lässt. Parker hat sich mit Currents also nicht nur musikalisch, sondern auch als Produzent deutlich weiterentwickelt.
Anspieltipp: „Let It Happen“

Yannic Köhler

Kurt Vile – Pretty Pimpin’
Mit Sicherheit eines der lässigsten Alben des Jahres. Songwriting in bester amerikanischer Folkrockmanier irgendwo zwischen Bruce Springsteen und Neil Young. Steelguitar und Banjo sind die prägnantesten Instrumente, an denen Herr Vile gekonnt seine Fingerpickingfähigkeiten demonstriert. Ergänzt durch klassische Rockbandinstrumentation und gelegentliche Piano- und Streichereinsätze, entstehen dichte, sphärische Folkarrangements. Über diese singt Vile, schnodderig wie immer, seine „easy going” Lyrics über den Unernst des Lebens. Dabei kümmert er sich nicht viel um die Formen und Trends der aktuellen Popmusik. B’lieve im going Down… wurde größtenteils in Los Angeles aufgenommen und klingt tatsächlich wie ein entspannter Road Trip entlang der sonnenbeschienenen Highways der kalifornischen Küste. Ein warmes, organisches Album, geschnitzt aus einem Stück, an einem Lagerfeuer irgendwo in den amerikanischen Weiten.
Anspieltipps: „Pretty Pimpin’“ & „Outlaw“

Laura Marling – Short Movie
Den Kern von Laura Marlings fünften Studioalbum bilden wie immer ihre tiefe Stimme und ihr außergewöhnlich reifes und ausgefeiltes Songwriting. Die 13 Songs sind kleine poetische Erzählbilder. Ruhig, ernst und nachdrücklich; rund und eingängig ohne langweilig zu werden. Die Texte der jungen Folkmusikerin sind gewohnt verträumt und rätselhaft. Marling singt über all die existenziellen Dinge, die einem immer im Hinterkopf herumwabern und die man doch nicht so recht greifen kann. Worum es konkret geht, weiß man nie und das ist vermutlich auch besser so. Statt auf einsame Gitarrenakkorde setzt Marling immer öfter auf die Dynamik einer ganzen Band, um die ruhigen Kompositionen an geeigneten Stellen zu durchbrechen. Das wirkt beizeiten etwas zu aufdringlich, macht dieses Album aber sehr spannend und deutlich vielseitiger als ältere Werke. Am Ende ist Short Movie nicht nur ein wirklich gutes Folkalbum, sondern 50 Minuten lang ein warmes Zuhause.
Anspieltipps: „Gurdjieff’s Daughter“ & „Divine“

Leo Hört Rauschen – Modern Modern
Kalt, monoton, steril. Modern Modern! Leo hört Rauschen sind eine Post-Punk-Fabrik. Nackt und kahl, ohne überflüssiges Dekor. Alle Geräusche sitzen, kein Ton zu viel. Effektiv und präzise, reduziert auf den rohen Kern. Bass und Drums verlieren sich in hypnotischer Monotonie, sind das Fundament, das Gerüst, heben jeden Song wie massige Betonplatten aus dem Boden. Wuchtiger Gitarrenkrach und repetitive Melodien setzen sich, als zerklüftete Ziegel auf die blanken Wände. Von diesen Dächern bellt Sänger Maik Wieden seine Großstadtpoesie durch die grauen Straßen der BRD. Packende Gleichförmigkeit, durch die sich immer wieder wütende Ausbrüche stoßen und einem den Schmodder aus den Gehörgängen pusten. Ein Album aus Eisen und Beton, ein Moloch aus Sound und Worten, der einen durchkaut und ausspuckt während man noch mitsingt: „Es tanzt die Taube den Tanz der Trümmer!”
Anspieltipp: „Muster“