Wenn man bedenkt, wo Yves Tumor vor ein paar Jahren gestanden haben, kann man beim Hören der neuen Platte Heaven to a Tortured Mind kaum glauben, dass es sich um dieselbe Band handeln soll. Noch vor drei Jahren hörte man auf dem Drittwerk Experiencing the Deposit of Faith spiritualistischen Ambient und vor fünf Jahren dekonstruierte Sean Lee Bowie (mutmaßlich der wirkliche Name des Künstlers hinter Yves Tumor), zusammen mit dem Soundartist und Queer-Rapper Mykki Blanco, gängige Hörkonventionen durch Avantgarde-Noise und Soundcollagen.
Und heute: Pop-Hit reiht sich an Pop-Hit. Justin Raisen (Kylie Minogue, Charli XCX, Angel Olson) ist als Co-producer und Sound-engineer bei kitschigen Liebesduetten wie „Kerosine!“ an den Hebeln, jeder Refrain hat Ohrwurmqualität und Songs wie „Super-Stars“ könnte man glatt im privat-kommerziellen Radio spielen!

Buhh! Ausverkauf! Kommerz-Müll! Ich will wieder Geräusch-Ambient!

mag einem bei dieser Beschreibung durch den Kopf gehen.  Aber ganz zu Unrecht. Yves Tumor haben hier kein glatt gebügeltes Mainstream-Album vorgelegt. Die Catchyness und Pop-Qualitäten wollen nämlich erst aus Myriaden von Einflüssen und Eigenheiten erschlossen werden. Besonders tritt diese Ungefälligkeit an den schwimmenden Versuchen bei der Rezeption durch Fans und Presse hervor, Heaven to a Tortured Mind mittels gängiger Genres zu kategorisieren. Ob als Collage aus Glam, Psychedlic Rock, Krautrock, Britpop, Soul und Noise bei Pitchfork, Gemisch aus „tart psychedelia“ und „maximal glam rock“ in der New York Times oder beschrieben durch scheinbar erfundene Wortkombinationen wie „hypnagogic pop“ und „acid jazz“ durch Fans auf der rateyourmusic – es wurde auf jeden Fall sehr kreativ. Jeder durfte ein paar lustige Wörter an den Beschreibungs-Baum hängen, der am Ende Yves Tumors Interpretation von und Kommentar zu Pop-Musik ist. Dass diese stilistische Vielfältigkeit auf Heaven to a Tortured Mind zu einem kohärenten Hörerlebnis zusammenkommt, zeugt von Talent. Dafür braucht es Vision und Willen. Willen, weil es für Erfolg in der Musikszene auch Medialisierbarkeit braucht. Man muss sich an medialen Imperativen orientieren können, um vermarktbar zu sein. Sich selbst einen Stempel, oder eine Catchphrase zu geben, ist essenziell, um Menschen mitzureißen. Brockhampton haben ihre eigene Marke durch Sprüche wie „Best Boyband since One Direction“ sehr erfolgreich gemacht. Genau dem verwehren sich Yves Tumor auf allen Ebenen: Keine Erklärungen für Musik oder Text, kein self-branding und Unberechenbarkeit durchweg. Hörerinnen und Hörer werden gefordert. Dieser Künstler-Ethos geht auch mit einer anarchischen Grundhaltung einher, welche die objektive Annäherung an den Mainstream auf Heaven to a Tortured Mind nie anbiedernd wirken lässt. In einem Interview mit Pitchfork aus dem Jahr 2017 antworteten Yves Tumor (Sean Lee Bowie möchte allgemein mit den Pronomen „Them“ oder „They“ adressiert werden) auf die Frage, ob sie sich denn als Teil des Diskurses um Gender und Sexualität sähen, folgendes:

“I really like to drop hints in the way I express myself, instead of making my gender or my sexuality or my feelings about equality my personal brand. That’s not why I do what I do.”

 

Unbedingt sollen die Kunst und Kunstfigur Yves Tumor für sich selbst stehen und auch so betrachtet, geliebt oder gehasst werden.

Der Opener „Gospel for a New Century” leitet das Album mit ordentlich Pomp ein. Auf einem New Yorker oldschool Sample kündigen Saxophone die Extravaganz an, die einen erwartet. Das Ganze läuft auf einen absoluten Knaller-Chorus raus, der in Sachen Sexappeal mit den lüsternsten Chartstürmern mithalten kann. Inhaltlich geht es um das Sich-aufgeben in Liebe, soziale Ängste und die nicht erwiderte Liebe. Neben dem angesprochenen Pomp und der Extravaganz, schwingt stets Verletzlichkeit mit. So auch auf dem gefühligen Duett „Kerosine!“ mit Diana Gordon oder auf dem Prince-esquen „Super Stars“, wo so hoffnungsvolle wie hoffnungslose Liebesbekundungen geschmettert werden.

Immer wieder mischen sich auch experimentellere Soundelemente ein. Auf „Medicine Burn“ lösen das noisige Riff im Refrain und verschiedene Synthies zunehmend die Strukturen von Chorus und Verse in sich auf. Im Übergang von „Romanticist“ zu dem kraftvollen „Dream Palette“ hört man sowas wie zündende Silvesterraketen. Ein paar verhallte Kinderrufe sorgen bei dem paranoiden „Astroid Blues“ für Unbehagen. Das Gefühl, wann solche Field Recordings in eine Songstruktur gepasst werden können, stammt sicher aus den Ambient-Avantgarde Wurzeln Yves Tumors. Ähnlich verhält es sich wohl mit der Zusammenführung der zahlreichen Genreelemente: Aus Mangel an gutem Aufnahme- und Produktionsequipment, haben Yves Tumor mit Noise und Ambient gestartet. In diesem Feld gibt es kaum Konventionen, an die man sich halten müsste – jeder Klang wird erstmal für sich erwogen und geschätzt. Aus dieser Freiheit, oder Unvoreingenommenheit konnte erst der Grundriss für ein so stilistisch reiches, dabei konzeptuell klares Album, wie Heaven to a Tortured Mind es ist, gezogen werden.

Es braucht zwar ein paar Hördurchgänge, bis sich einem die Stärken des vorliegenden Albums erschließen, sobald dafür der Zugang gefunden ist, bekommt man es nicht mehr so schnell aus dem Kopf. Heaven to a Tortured Mind zieht entweder komplett an einem vorbei oder reißt einen mit – dazwischen gibt es nicht viel.