Alexander Rumpf

Jeff Rosenstock - No Dream

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Jeff „Death“ Rosenstock macht seit Jahren mit Bands wie Bomb the Music Industry und Antarctigo Vespucci interessanten DIY-Punk, der den Finger in die Wunde unseres Welt- und Herzschmerzes legt. Am interessantesten ist jedoch sein Solo-Output unter dem Namen Jeff Rosenstock. Das liegt vor allem daran, dass hier der Finger die gottverdammte Wunde quasi auskratzt. Eine stetig wachsende Wut auf die amerikanische Leistungskultur, die mit ihrem subtilen Druck jeden vom Kurs abweichenden Träumer drangsaliert? Eine Entfremdung von einst vertrauten Menschen, die man passiv akzeptiert? Und das decken allein die Songs des ersten seiner mittlerweile vier Alben gut ab! Was die Musik von Jeff Rosenstock und somit auch sein neues Album NO DREAM ausmacht, ist eine in atonales, hyperaktives Geschrei gepackte, mit Gitarren und krachendem Schlagzeug unterlegte, schwer zu begründende Hassliebe einem System gegenüber, aus dem auszubrechen unmöglich ist, das ihn in miesmutige Melancholie stürzt und das ihm trotzdem Momente unbesiegbar scheinender Euphorie erlaubt. Jeff Rosenstock bringt diesen scheinbaren Widerspruch jedoch glaubhaft rüber und wiederholt dabei nicht die platten Klischee-Argumente der “Das System muss weg!”-Rufer, sondern schildert ganz persönliche Konflikte und Tragödien aus unserer derzeitigen Konsumkultur. Das ist vielleicht nicht sonderlich erheiternd, aber sehr hörenswert.

Anspieltipps: “***BNB” & “Ohio Tpke”


No Dream

BY

Jeff Rosenstock

Release

20.05.2020

Label

Polyvinyl Records

 

Anton Schroeder

Porridge Radio - Every Bad

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„Thank you for leaving me, thank you for making me happy“ singt Dana Margolin, die zweite Hälfte dieses traurig schönen Satzes wiederholt sie immer und immer wieder, handgezählte achtunddreißig (38) Mal wird (wem auch immer) für das Beglücken des Lyrischen Ichs gedankt – anfangs klingt das durchaus versöhnlich, doch mit jeder Wiederholung bricht Margolins Stimme ein wenig mehr, die begleitende Instrumentalisierung gerät zunehmend aus den Fugen, bis der Danksagung am Schluss, wenn Margolin kehlig und merklich erschöpft ins Mikrofon schreit, eine bittere Verzweiflung innewohnt; Der Song endet mitten im Satz.
Momente wie dieser, in denen die Stimmung plötzlich vom Harmonischen ins nahezu Unheimliche kippt und das Gesungene auf einmal in ein gänzlich anderes Licht getaucht wird, sind es, die Every Bad, das zweite Album der in Brighton ansässigen Indie-Post-Punk-Rock Band Porridge Radio aus der Masse der englischsprachigen Gitarrenmusik hervortreten lassen, die das Album herausragend machen.
Every Bad kann man gewissermaßen als recht typische Erzählung einer westeuropäischen Mittzwanzigerin im Jahr 2020 beschreiben – der grundierenden Traurigkeit ob der noch vergeblichen Suche nach Existentiellem wird mit einer Mischung aus gnadenloser Selbstentblößung („I’m rotten at my core, I’m ugly deep inside“) und latentem Zynismus („I’m doing well, I’m doing fine,
We’re all okay, all of the time“) begegnet, traditionelle Geschlechterrolle bringen weitere Schwierigkeiten mit sich (herrlich bedrohlich: „I am charming, I am sweet and she will love me when she meets me“). Dennoch ist die Musik Porridge Radios keine, die auf der reinen Ablehnung der Umstände fußt – Texterin Margolin ist gewiss nicht gerade zufrieden, doch Nihilismus kann man ihr keineswegs vorwerfen: im Kern allem steckt stets die Hoffnung, nun doch noch einen Ort der Linderung vorzufinden („And where was home to you? And where did you feel safe? A warm and gentle place“) – und tatsächlich: mit dem Ende des Albums scheint etwas Ruhe einzukehren, die Probleme sind zwar nicht gelöst, aber zumindest für einen Moment vergessen – „I‘m coming home“.

Anspieltipps: “Born Confused” & “Lilac”


Every Bad

BY

Porridge Radio

Release

13.03.2020

Label

Secretly Canadian

Arthur Witte

Friends Of Gas - Kein Wetter

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Was tun in der düsteren Welt des Spätkapitalismus? Die Münchner Band Friends Of Gas liefert mit ihrem Album Kein Wetter zwar keine praktischen Handlungsanweisungen, illustriert dafür aber deprimierende Ausschnitte der Gegenwart mit düster-lärmigen Postpunk-Farben.
Das Grundproblem wird schnell klar: “es war einmal der Mensch” (“Teilchen”), der existiert heute aber nur noch als entfremdetes Häufchen Elend. Und jetzt, “Kapital oder kapitulieren?” Dann wohl letzteres. Doch glücklich macht die Anpassung natürlich nicht. Sky is the Limit? Der Blick vom Hochhausdach offenbart nur Grau und Schwindelgefühle (“Graue Luft”).
Womöglich hilft die Flucht in den ländlichen Raum (auf “Felder”), aber allzu sonnig-hippiesk gerät der Ausflug nicht: düstere Felder, Fliegen auf schwitzender Haut. Immerhin lässt sich hier okkult dem Magnetismus huldigen. Doch versucht man das Unbändige der Natur in den Alltag zu integrieren, kommt dabei auch nur der bürgerliche Kleingarten heraus. Herrlich angepasst und unbewaffnet lässt man die Munition vermodern (“Schrumpfen”). Auch im Zwischenmenschlichen lässt sich keine Ausflucht finden, schließlich ist auch die Liebe schon längst eingehegt in die von der Kulturindustrie vorgegebenen Formen. “Unsere Liebe ist nur ein in Hollywood gezüchtetes Monster” wird auf “Stechpalmenwald” konstatiert.
Ist das nicht alles ein bisschen schwarzmalerisch? “Im Bad” zeigt den Versuch, einen harmonischen Zustand innerhalb des System zu fabrizieren: kann man aus heiß und kalt nicht einfach lauwarm mischen? Der Idealzustand wird vermeintlich schnell erreicht. Doch während Sängerin Nina Walser diesen durch Aufzählung von Adjektiven wie “beruhigt”, “sicher”, “angenehm” und “entspannt” versucht schmackhaft zu machen, schrauben sich die Instrumente in kreischende Noise-Gefilde. Die vermeintliche Harmonie im System wird konterkariert, mit netten Worten lassen sich die Widersprüche wohl doch nicht verdecken.
“Abwasser” schlägt dagegen die Ablehnung von verbaler Sprache und Hygiene als subversiven Akt vor. Diesen Weg einzuschlagen hätte zumindest den Nachteil, dass Alben wie Kein Wetter nicht mehr möglich wären. Denn hier wird Sprache noch wirkungsvoll eingesetzt: meist sehr reduziert, oft orakelhaft, manchmal sich in hysterische-loopende Mantras steigernd, aber immer cool gekrächzt. Sollte man gehört haben!

Anspieltipps: “Schrumpfen” & “Im Bad”


Kein Wetter

BY

Friends Of Gas

Release

05.06.2020

Label

Staatsakt Rec. GmbH

Charlotta Westphal

AB Syndrom - Frontalcrash

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Passend zum Titel Frontalcrash begibt man sich bei AB Syndroms neuem Album auf eine turbulente und schnelle Autofahrt mit hartem Aufprall. Ein wildes, intimes und freigeistiges Album, das in mir eine kleine Liebe für elektronische Klänge erweckt hat.
Anton und Bennet lassen die deutsche Sprache so international klingen, wie man es selten zu hören bekommt. Die Tiefgründigkeit ihrer Texte versteckt sich dabei gelegentlich hinter eingebauten Anglizismen und Stimmeffekten, und so wird aus der teilweise dunklen und innersten Gedankenwelt von Sänger Bennet abstrakte hörbare Poesie. Der Text allein steht allerdings nicht immer im Vordergrund – muss er aber auch nicht, da die Lieder ein in sich verflochtenes Netz aus Experiment und Genialität sind.
Die Berliner Band, die sich auch international durch ihre einzigartige Art und Weise Musik zu produzieren, konzipieren und arrangieren von vielen anderen abhebt, hätte in meinen Augen um einiges mehr Aufmerksamkeit verdient. Seit mehreren Jahren schon produziert das Duo seine Alben komplett in Eigenregie. Das heißt, vom ersten Ton bis zum letzten Design steht zu hundert Prozent AB Syndrom dahinter. Und das bekommt man bei den Liveperformances auch zu spüren. Keine Hintergrundbeats, keine vorprogrammierte Bühnenshow, alles wird live im Moment erzeugt. Die Ausstrahlung und Energie der beiden wickelt dabei auch den letzten Electro-Skeptiker um den kleinen Finger.
Aber zurück zum Album: Es ist … anders. Aber anders in einem sehr positiv gemeinten Sinne. Niemals langweilig, niemals eintönig und niemals hat man das Gefühl, den Sound schon einmal so ähnlich irgendwo gehört zu haben. Manche Songs rasen geradezu mit „HIghspeed“ durch den eigenen Kopf und verlangen dringlichst das mehrmalige Hören und bieten den Genuss, auch beim dritten Mal noch kleine Details in den Liedern zu entdecken. Für den ein oder anderen Track muss man eventuell von seinen sonstigen Hörgewohnheiten abweichen, aber der Abstecher von der Norm in die Unbekanntheit wird mit einer erweiternden Musikerfahrung belohnt. Besonders „Shell Öl“ sticht für mich mit seinem unbändigen Energielevel und den intelligenten, doppelbödigen Wortfetzen auf dem Album sehr heraus. Und auch das dazugehörige Video scheint mit beeindruckender Präzision, Liebe zum Detail und Hochwertigkeit gedreht worden zu sein.

„Und ich nehm‘ Anlauf und ersauf in Highspeedlove.“

So lässt man sich fallen und geht unter in ihren ungewöhnlichen Klängen, Arrangements und Effekten. Nach dem Highspeedtrip folgt die Drosselung. Zum runterkommen, Pause machen, durchatmen – doch der Sound gaukelt einem diese Entspannung nur vor und eh man sich versieht, nimmt man wieder Geschwindigkeit auf und lässt sich mitreißen. Ein Album, welches das Konzept seines Titels bis ins kleinste Detail verkörpert. So schwer bekömmlich wie das jetzt klingt, ist es in der Umsetzung jedoch nicht. AB Syndrom verbinden weitgedachte, persönliche Texte und außergewöhnliche elektronische Sounds mit Leichtigkeit und Tanzgefühl.
Und auch die Zusammenarbeit mit der Sängerin Mine steht dem Albumkonzept nicht im Weg. Im Gegenteil: sie zeigt uns, wie Romantik und Herzbrechen auch ohne Kitsch auskommen kann. Auf „Spiegelverkehrt“ ist ein wunderschönes Duett zu hören, welches wieder einmal beweist, dass das Thema Liebe nicht wie im Radio-Pop durch die immer gleichen Phrasen verhunzt werden muss, sondern auch gefühlvoll und intelligent zugleich sein kann. Liebe muss nicht gleich Kitsch sein. Und Pop muss auch nicht schlecht sein. AB Syndrom liefern dafür mit Frontalcrash mal wieder ein klarer Beweis – und sind eine wichtige und große Bereicherung für die deutsche Musiklandschaft. Eine Band, die das perfekte Gesamtpaket an Kreativität, Experimentierfreude und Scharfsinn in nur zwei Menschlein vereint und die zeigt, dass es mehr gar nicht braucht, um wirklich hervorzustechen.

Anspieltipps: “Shell Öl” & “Frontex”


Frontalcrash

BY

AB Syndrom

Release

27.03.2020

Label

Herr Direktor

Hannes Recknagel

In Extremo - Kompass Zur Sonne

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Geschlagene vier Jahre ist es her, seit die mittelalterlichen Rocker von In Extremo ein Album released haben. War es das lange Warten und die Vorfreude wert? Auf jeden Fall!
Bissiger denn je gibt es Dudelsack und Co. auf die Ohren. Egal ob man nach Songs zum Feiern sucht oder nach starken politischen Statements, auf diesem Album wird man fündig.
Schon in den ersten drei Liedern finden sich mit „Troja“ und „Lügenpack“ zwei Songs, bei denen man weder Gliedmaßen noch Gedanken zurückhalten kann – Polit-Kritik in bestem Rock-Gewand. Und wenn es in der Mittelaltermusik um Politik geht, darf natürlich ein Anti-Kriegs-Lied nicht fehlen. Dieses wird mit „Saigon und Bagdad“ auch prompt als Titel sieben geliefert. Der Text geht ins Mark und wird von der harten Instrumentalisierung noch einmal unterstrichen. Hier können alle nochmal mitschreiben: Krieg ist scheiße!
Da mein Statement jetzt gesetzt ist, kann es auch schon weiter gehen. Bei so viel Politik und Aggression braucht es natürlich etwas Abwechslung. Und da gibt es kaum etwas besseres als gute Laune. Und dabei helfen…? Genau! Freunde und Alkohol! Bei „Reiht euch ein ihr Lumpen“ und „7 Brüder“ bleibt keine Kehle trocken.
Ein weiteres Merkmal In Extremos stellt ihre Verbundenheit zur russischen Kultur dar, die natürlich auch auf dem neustesn Album zelebriert wird: „Gogiya“ ist ihre Interpretation des russischen Folksongs.
Zum Abschluss dann noch einmal etwas Ruhiges: „Schenk nochmal ein“ und „Wintermärchen“ bringen einen nach all den harten Tönen wieder etwas runter und senken den gepushten Blutdruck. Unterm Strich ein geniales Album, das für sich steht. Wer 55 Minuten Zeit hat und vielleicht noch nie von In Extremo gehört hat, sollte sich diese nehmen. Denn es lohnt sich, auf die Texte zu achten und dabei einfach… nichts anderes zu tun.

Anspieltipps: “Troja” & “Lügenpack”


Kompass Zur Sonne

BY

In Extremo

Release

27.03.2020

Label

Vertigo Berlin

Jennifer Georgi

Caribou - Suddenly

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Dass Daniel Victor Snaith aka Caribou früher hauptberuflich den Wundern der Zahlenwelt nachgegangen ist, scheint kaum vorstellbar – hören sich doch seine vielseitigen und qualitativ hochwertigen Produktionen ein ums andere Mal an, als hätte der promovierte Mathematiker nie etwas anderes als Musik gemacht.
Im Jahr 2000 veröffentlichte er, damals noch unter dem Namen Manitoba, seine erste EP People Eating Fruit. Dies markierte den Beginn einer sich stetig aufwärts entwickelnden Musikkarriere. So veröffentlichten Caribou nahezu im Jahrestakt eine neue Platte und wurde bereits durch den Polaris Music Prize und den Juno Award in der Kategorie „Electronic Album of the Year“ ausgezeichnet.
Nach einer doch etwas längeren Schaffenspause von drei Jahren erschien im Februar 2020 die neuste LP Suddenly. Inhaltlich nähert sich das siebte Album des gebürtigen Londoners der Thematik Familienleben – Ehepartner, Kinder, Eltern und Geschwister sowie ihre Beziehungen untereinander.
Musikalisch fallen innerhalb der 12 Songs zahlreiche abrupte Brüche, Stopps sowie unerwartete Richtungsänderungen auf und auch Snaiths Einflüsse aus Afrobeat, Funk, Soul und Fusion Jazz sind unverkennbar.
So beginnt „You And I“, eine Art musikalische Traumabewältigung mit einer 80er-Jahre-Synthesizer-Melodie, welche nahtlos in hochgepitchten sentimentalen Singsang übergeht und letztlich in einem ausschweifenden Gitarrensolo mündet – drei Tracks, die zu einem verschmelzen und das überaus gelungen. In „Sunny’s Time“ vereinen sich hoch- und runtergepitchtes Piano und ein HipHop-Vocalsample und in „Sister“, einem überaus typischen Caribou-Song, treffen ein leiernder Synthesizer und märchenhafter Gesang auf elektronische Störgeräusche. Sicherlich trifft dieses musikalische Experiment nicht jeden Geschmack und drückt auch teilweise etwas aufs Gemüt, doch für mich hat Suddenly den Titel „Album des ersten Halbjahres 2020“ auf jeden Fall verdient.

Anspieltipps: “You And I” & “Sunny’s Time”


Suddenly

BY

Caribou

Release

28.02.2020

Label

City Slang

Jessica Woelke

Fynn Kliemann - POP

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Mein Album des Halbjahres ist POP von Fynn Kliemann. Ursprünglich wurde dieser als tollpatschiger Heimwerker auf YouTube bekannt, bevor ihm der Durchbruch mit seiner Musik gelang, Nebenher ist der inzwischen 32-Jährige noch als Autor, Schauspieler und Filmproduzent tätig. Besonders dabei ist für mich vor allem, dass Kliemann das alles aus eigener Kraft schafft, seine Texte alle selbst schreibt und keins seiner Videos bisher durch Werbung finanziert wurde. Seit zwei Jahren ist der Sänger mit seiner Musik erfolgreich, sein erstes Album NIE verkaufte sich über 100.000 Mal- und das ganz ohne Plattenfirma. Sein zweites Album POP überzeugt mich mit seiner Mischung aus Klaviermusik, Deutsch-Rap und poetischem Pop. Der beste Song ist definitiv ,,Eine Minute“, in welchem er die Schnelllebigkeit unserer Welt kritisiert und dazu anhält, einen Moment bewusst zu erleben. Aber auch „Die Hook“ oder „Frieden mit der Stadt“ sind großartig. Neben seiner Musik-Karriere ist der Sänger während der Corona Krise einer der größten Schutzmaskenproduzenten in Europa geworden. Los ging es mit 1000 Masken, inzwischen lässt er in Fabriken in Portugal und Serbien 1.000.000 Stück pro Woche produzieren und verkauft sie zum Selbstkostenpreis. Das einzige Manko: Fynn Kliemann spielt nie Live Konzerte, weshalb ich auch das neue Album POP nur digital hören kann. Trotzdem ein wirklich gutes Album mit viel Liebe zum Detail.

Anspieltipps: “Eine Minute” & “Die Hook”


POP

BY

Fynn Kliemann

Release

29.05.2020

Label

twoFinger Records

Leonid Lewandowski

Mamaleek - Come And See

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Zwei anonyme Brüder – einer aus Beirut, einer aus San Francisco – graben das abgeblühte Feld des Black Metals unter dem Namen Mamaleek seit über zehn Jahren gehörig um. In dieser Zeit hat sich aus zahlreichen Zuflüssen zur Black Metal-Grundhaltung, wie Industrial, Jazz, orientalischer Chormusik oder Trip-Hop, ein distinktiver Sound herausgebildet, der eigenständiger denn je auf Come & See in seiner ganzen Hässlichkeit glänzen kann.
Der emotionale Einschlag, den bewohnter Raum auf uns ausübt – und bei seinem Verschwinden hinterlässt – wird auf „Cabrini-Green“ analysiert. Das gleichnamige Nachkriegs-Wohnprojekt in Chicago glitt mit Jahren der städtischen Vernachlässigung zunehmend in Probleme wie Bandenkriminalität ab und wurde von 1995 an stückweise zum Abriss freigegeben. Trotz Protest der verbliebenden Bewohner wurde 2011 das letzte der Häuser demoliert, woraufhin viele Menschen obdachlos wurden. „Cabrini-Green“ wurde in den Staaten zu einer Metonymie für die Probleme des Sozialen Wohnungsbaus. Blinde Ausweglosigkeit, wie sie die Menschen von Cabrini-Green erlebt haben müssen, schlägt sich auch in den harschen Vocals nieder. Instrumental und Gesang tragen innere Aufruhr und Verzweiflung über die ganze Länge des Albums. Demgegenüber prägen Härte und Entschlossenheit die Form und Haltung des Projekts. Das zeigt sich besonders in den Vocals und Texten, wenn nach einem intensiven Spannungsaufbau die Zeile „I’m never coming back!“ wieder und wieder gerufen wird, während Gitarre und Schlagzeug in dreschenden Noise abdriften. Eine der Stärken von Come & See ist, dass die entstehenden Stimmungen sich nicht anbiedern oder abgenutzt wirken, wie es bei Vertretern konventioneller Hartmusik der Fall ist. Gerade die ästhetisch selbstbewussten Jazz- und Bluespassagen sorgen in der zweiten Hälfte des Albums für anspruchsvollere Dynamiken und wirken musikalisch sehr frisch.
Mamaleek – als eine der innovativsten Gruppen ihrer Liga – bringen mit Come & See wieder einmal schwere Kost auf den Teller. Wer sich von den rohen Vocals nicht abschrecken lässt, kann sich auf eines der diesjährigen Highlights des härteren Metiers freuen.

Anspieltipps: “Cabrini Green” & “We Hang Because We Must”


Come And See

BY

Mamaleek

Release

27.03.2020

Label

The Flenser

Lukas Witschas

Antilopen Gang - Abbruch Abbruch

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Bereits im Januar erschien mit Abbruch Abbruch das dritte Album der Antilopen Gang. Nun fragt sich der eine oder die andere mit Sicherheit: Haben die nicht diesen Pizza-Song gemacht? Absolut, doch wer nur „Pizza“ gehört hat, kennt die Antilopen Gang nicht.

Mit ihrem neuesten Album stellen sich Koljah, Panik Panzer und Danger Dan erneut gegen im Rap verbreitete Macho-Attitüden: In „2013“ reflektieren sie ihre Bandgeschichte und den Suizid des ehemaligen vierten Mitglieds NMZS, auf „Bang Bang“ wird offen über vermurkste erste Male sinniert und mit „Trenn dich“ gelingt ein Appell für wahrhaftige Liebe.

Doch die Antilopen Gang provoziert auch gern: vor dem Release des Songs „Lied gegen Kiffer“ wurde dieser in den sozialen Medien nur mit „LgK“, Sprüchen wie „Stay high“ und Bildern aus dem Cannabisfeld stilisiert. Mit der Veröffentlichung erzürnten sich viele (wohl schwer getroffene) Kiffer in wütenden Hate-Kommentaren. Und die Reaktion der Antilopen Gang ließ nicht lange auf sich warten. Kolja sagte dazu sinngemäß, es mache ihnen einfach Spaß, all die nervenden Kiffer zu bashen. So heißt es im Song: „Wer dauernd kifft wird zwangsläufig Neurechter“.

Doch neben alberner Provokation greift die Antilopen Gang auch zu ernst gemeinter Gesellschaftskritik: „Smauldo“ ist eine Aufzählung ironischer und paradoxer Alltagsszenen; So heißt es in dem Track: „Findest Männer, die sich küssen sollten sich verstecken müssen, aber Pornos mit Lesben gehen klar“. Darauf folgt ein „Halt dein Maul, Du hältst mal schön dein Maul“. Oder „Du fühlst dich nun sicher, denn du klebst die Sticker auf die Kamera deines Handys“ und darauf dann wieder ein „Halt dein Maul“.

Fazit: Abbruch Abbruch hält, was Titel und Cover ankündigen: das Album gleicht einer Fahrt in der Geisterbahn. Schonungslose Eigenkritik, Trauer, gesellschaftliche Relevanz und herrliche Zeilen zum Ablachen wie „Das Zentrum des Bösen ist der Dorfplatz“ reihen sich dicht an dich aneinander. Und auch wenn man nicht mit allen Aussagen mitgeht und zwischendrin das Bedürfnis verspürt laut „Abbruch, Abbruch“ zu schreien, bleibt man irgendwie dabei. Einfach gute Unterhaltung.

Anspieltipps: “Bang Bang” & “Smauldo”


Abbruch Abbruch

BY

Antilopen Gang

Release

24.01.2020

Label

JKP/WM Germany

Michel Deter

Tom Misch & Yussef Dayes - What Kinda Music

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Man nehme einen Schlagzeuger, der zwei Kochlöffel gleichzeitig benutzen kann, einen Gitarristen mit butterweicher Stimme, eine Prise süßen Bass und voila! Fertig ist eine Platte voller Gaumen… äh Ohrenschmaus. Der blonde Schmuse-Groove-Prinz aus England, Tom Misch, serviert uns hier gemeinsam mit dem Schlagzeug-Virtuosen Yussef Dayes eine dicke Scheibe Groove. Jazzig, flirrend, atmosphärisch und dynamisch kommt das gemeinsame Studio-Album What Kinda Music der beiden Londoner daher. Eine perfekte Kombo, beherrscht doch der eine sein Instrument besser als der andere. Tom Mischs Album Geography landete schon 2018 in meinen Jahrescharts und auch Yussef Dayes brachte im selben Jahr mit seinem zehnminütigen Rhythmus-Ritt von „Love is the Message“ (absolute Song-Empfehlung!) meine Lautsprecher zum Qualmen. Dementsprechend groß waren die Erwartungen an diese Zusammenarbeit der zwei kreativen Beat-Konstrukteure. Es ist eine LP auf der Drums und Gitarren-Melodie ineinander verschmelzen, beide miteinanderspielen, sich mal jagen und dann wieder friedlich zusammen auf dem Sofa kuscheln. Insgesamt war das Album für mich eine schöne Begleitung in der eintönigen Corona-Zeit, in der auch Tom Misch aus seinem Schlafzimmer mal zwischendurch „hello“ sagte (die grandiosen „Quarantine Sessions“ auf Toms YouTube-Kanal sind eine kleine Bonus-Empfehlung).

Anspieltipps: “Lift Off” & “Nightrider”


What Kinda Music

BY

Tom Misch & Yussef Dayes

Release

24.04.2020

Label

Beyond The Groove / Blue Note Records

Philipp Mantze

Nicolas Jaar - Cenizas

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Nicolas Jaar lädt nicht zum Tanzen ein, sondern zum Zuhören. Nach Drums oder einem ‚Beat‘ sucht man auf Jaars jüngster Veröffentlichung und damit seinem fünften Album, rechnet man den Soundtrack zu The Colour of Pomegranates und die Nymphs dazu, weitesgehend vergebens. Während man auf früheren Werken, nicht zuletzt auf Sirens, noch dazu geneigt war, den einen oder anderen Song seiner ‚Electro-Club-Techno-IDM-Playlist‘ hinzuzufügen, so wendet sich das ungeduldige Ohr nun enttäuscht und perplex ab ob all dieser ziellosen, tristen, vielfach atonalen und schiefen Einheiten oder Bündel von Tönen oder Stücke. Inmitten all der Free-Jazz-Saxophone, Klavier-Miniaturen und allerlei weiterer undefinierbarer Instrumente und Geräusche (Neue Musik?), ist es seine Stimme, die noch etwas Orientierung bietet. Man kann zwar keinesfalls behaupten, dass Nicolas Jaar erst jetzt das Experimentieren und zügellose, grenzenmissachtende Komponieren entdeckt hat – schon sein Debüt, das ihn zum Mozart dieser Tage machte, wimmelte davon. Cenizas geht nun jedoch einen Schritt weiter, oder eher zurück. Es wird auf das aller nötigste reduziert, meist sind höchstens zwei Instrumente gleichzeitig am Werke und so schafft Jaar eine Atmosphäre, die sehr viel Raum lässt. Nicht zuletzt die sakralen Elemente, wie auf “Vanish” oder “Hello, Chain”, untermalen das Tragicum, das er innerlich angesichts des Äußerlichen verspürt. Das Album-Cover deutet mehr als an, dass Cenizas (sp. für Plural von Asche) eine intensive Introspektion vorausgegangen sein muss. Der Raum, der ausgespart oder vielmehr geschaffen wird, lädt einen jeden dazu ein, seiner Reise zu folgen. Der vermutlich gravierendste Unterschied zu seinen früheren Werken ist vielleicht, das sich Cenizas nur so richtig auf Kopfhörern hören lassen will. Wem das zu langweilig ist, dem sei Nicolas Jaars Alter Ego Against All Logic empfohlen, dessen „2017-2019“ mein Kollege Szymon auserkoren hat, und das zwar nicht minder experimentell und virtuos, aber doch immerhin hier und da tanzbar ist.

Anspieltipps: “Mud” & “Hello, Chain”


Cenizas

BY

Nicolas Jaar

Release

27.03.2020

Label

Other People

Szymon Chrost

Against All Logic - 2017-2019

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Es ist immer cool zu sehen, wenn ein Künstler mit viel Spaβ und Leichtigkeit seiner Passion nachgeht. Bei Nicolas Jaar ist das der Fall. Allein in den ersten drei Monaten des neuen Jahres veröffentlichte er bereits ein Album unter seinem Namen sowie ein weiteres als Against All Logic. Zudem konnte er die Fans seines Projekt A.A.L. mit einem neuen Stil überraschen. Sein erstes Album unter diesem Pseudonym bot eher warme House-Musik zum Wohlfühlen, aber 2017-2019 ist etwas anderes.
Das Album beginnt mit scharfen und süßen Vocals von Beyoncé, die über verzerrten, knusprigen Geräuschen liegen. Diese Art von Sample könnte definitiv von einem Burial-Stück kommen… wenn dieser sich weniger auf die dunkle Seite der Existenz konzentrieren würde.
Das nächste Stück folgt einer ähnlichen Ästhetik, was jedoch nicht zu der Annahme verleiten lassen sollte, dass die gesamte LP so sei. Die Genre-Fusion hier ist großartig: von Hip-Hop-Loops bei “With an Addict” bis hin zu industriellem Techno in “Deeeeeeefers” und sogar Lo-Fi-House in “Penny”. 2017-2019 ist ein aggressives Album, bei dem viel mehr mit verschiedenen Schritten experimentiert wird. Das beste Beispiel für dieser Aggression ist der Track, auf dem Lydia Lunch ”If you cant beat ’em, kill ’em/ If you can’t kill ’em, fuck ’em” ruft. Die Energie hier ist roh und schwer, aber Jaar weiß, was er tut. Die Tatsache, dass diese Platte nur neun Tracks enthält, die sich stark voneinander unterscheiden, kann einem das Gefühl geben, dass dieses Album sehr chaotisch ist, aber zum Glück passt alles zusammen.

Anspieltipps: “Fantasy” & “Penny”


2017 - 2019

BY

Against All Logic

Release

07.02.2020

Label

Other People