Webcam-Weltstars

Dicker Plattenvertrag, großes Tonstudio und eigener Manager. Wovon viele Bands träumen, ist heute schon längst nicht mehr nötig, um im Musikbusiness erfolgreich zu werden. In Zeiten von Social Media reicht ein Smartphone, Laptop und Account auf YouTube oder Instagram. Direkt aus dem Kinderbett ins World Wide Web gestreamt. Ein Musikgenre, welches diesen DIY-Charakter verkörpert wie kein anderes, nennt sich Bedroom-Pop und trifft bei der Generation Z total den Nerv. Nicht nur, weil die Nahbarkeit zu den Künstlern und Künstlerinnen (zu mindestens anfänglich) gegeben ist, sondern auch die Lieder von Identität, Außenseiter-sein oder Liebeskummer handeln. Genau die Themen, welche junge Menschen beschäftigen und sie sich wiederfinden können. Ein Beispiel für einen solchen Webcam-Weltstar ist Clairo. Die heute 22-jährige lädt 2017 ihren selbst geschriebenen und produzierten Song Pretty Girl auf YouTube hoch, mitsamt einem krisseligen Laptop-Frontkamera-Musikvideo. Das Video geht viral und verschafft ganz nebenbei einem weiteren Musikvideo eines jungen Singer-Songwriters aus Norwegen die Aufmerksamkeit, die es verdient.

when all your high school bullies decide to make an indie band
– YouTube-Kommentar

Do It Yourself

Nicolas Pablo Rivera Munoz war in der Schulzeit eher ein Außenseiter. Während sich seine gleichaltrigen Klassenkameraden am Wochenende auf Partys betrinken, bleibt Nicolas lieber zuhause, spielt Videospiele und übt fleißig Gitarre. Ermutigt von seiner musikalischen Familie lernt er gleich Schlagzeug, Klavier und Bass dazu und beginnt eigene Cover-Versionen zu produzieren. Nach seiner ersten veröffentlichten Sinlge Flowers, dreht er 2017 mit einigen Schulfreunden ein kleines Musikvideo zu seinem Song “Everytime”, welches er auf YouTube lädt. Anfangs passiert nicht viel, doch dann wachsen die Klickzahlen exponentiell. Der YouTube-Algorithmus empfiehlt den Fans von Mac DeMarco, Clairo und Rex Orange County das Video und die sind ganz verzückt. Rasant entwickelt sich das kultige Video zum Hit.
Schnell veröffentlicht der Norweger mit chilenischen Wurzeln eine EP, packt seine Gitarre plus Freunde in einen Bus und geht Anfang 2018 auf Welttournee. Knapp 40 Tage touren sie durch Europa, Asien und Amerika und hinterlassen durchgetanzte Schuhsohlen und noch mehr Fans. Mit seiner zweiten EP “Soy Pablo” im Gepäck tritt die fünf-köpfige Band Anfang 2019 dann beim Social-Media-Festival Coachella auf. Der Social-Media-Popstar scheint am Ziel seiner Reise angekommen zu sein. Aber anderthalb Jahre später soll es nun erst richtig losgehen.

Das Boy Pablo Rezept

Während Bedroom-Popstars wie Clairo mit ihrer Musik eher in Richtung Lo-fi gehen, war und ist der Sound von Boy Pablo schon immer mehr dem Genre Dream Pop angehörig. Wabernde Synthies, kräftiger Hall auf die Stimme, tanzbare Drumbeats und eine catchy Gitarren-Melodie auf dem Höhepunkt des Liedes. Der Lockenkopf macht mit seiner ersten Langspielplatte “Wachito Rico” (chilenischer Slang für “handsome boy”) genau dort weiter, wo er aufgehört hat. Der Sound und das Verliebtsein sind geblieben, nur die Musikvideos sind aufwendiger geworden. Produziert hat der 21-Jährige die Songs mit seinem selbst gegründeten Label 777 MUSIC, welches auch andere Mitglieder der Band mit ihren Einzelprojekten unter Vertrag hat. Das Album handelt von den Gefühlen eines verliebten Jungen, welcher seine Gedanken, seinen Kummer und seine Bewunderung mit einfachen Lyrics an die Angebetete adressiert. Sehr einfachen Lyrics.

Hey girl, do you like me?
I guess that’s a stupid-ass question
I’m asking ’cause I’m nervous
You look so fine, you make me shiver, oh

Um noch persönlicher schreiben zu können, hat Pablo für das Album einen Charakter erfunden, hinter dem er sich selbst verstecken kann. Das habe ihm dabei geholfen über mehr intime Gefühle zu schreiben. Besonders der Song te vas // don’t go, auf welchem auch musikalisch andere Saiten angeschlagen werden, zeigt die intime Seite des Norwegers. Insgesamt singt Pablo nun auch mehr auf spanisch, was vielen seiner drei Millionen monatlichen Spotify-Zuhörer*innen gefallen wird. Besonders im Song” Wachito Rico” vermischt der Indie-Star seine Muttersprache spielerisch mit englischen Lyrics.

Und wie geht’s weiter, Pablo?

Auch wenn sich der Sound des kleinen Norwegers nicht groß weiterentwickelt hat, klingen die Gitarren immer noch frisch, der Chorus nach wie vor catchy und der Bass blubbert weiter tanzbar vor sich hin. Das Boy Pablo Rezept geht auf und seine Fans können sich auf weitere Gute-Laune-Songs freuen, die ihnen den kalten, dunklen Lockdown versüßen werden. Sein erstes Album mit Klängen und Themen zu füllen, die einen erfolgreich gemacht haben, ist nicht verkehrt. Trotzdem könnte der Singer-Songwriter die freie Zeit ohne Konzerte nutzen, um seiner eingängige Songstruktur einen neuen Anstrich zu verleihen. Sonst könnte ein unsanftes Erwachen aus dem Traum folgen.
Aber bis dahin drehen wir erstmal die Boxen auf und lassen uns von funky Gitarrenmelodien in Pablos Traumwelt entführen.