Händeringend sucht man dieser Tage nach Musik, die wirklich noch überraschen, begeistern, entsetzen oder einfach in Wortfindungsschwierigkeiten versetzen kann. Die allermeisten Genres der letzten 50-60 Jahre scheinen verbraucht, die Massen an Post- und Neo-Revivals von Stilen überbieten sich in ihren Versuchen, Musikrichtungen in nostalgischer Sehnsucht wieder- oder neu zu beleben. Eine gewisse Ernüchterung am „Ende der großen Erzählungen“ der Musik und ihren Verheißungen mag nicht fehl am Platz erscheinen und dennoch ist dies nicht das Ende der Musik. Gitarrenmusik wurde bereits um 2000 als überholt deklariert, nur um bald darauf eine Renaissance von unzähligen Bands rund um die Strokes zu erleben. Gleichzeitig kann die Tatsache, dass Musik im Großen und Ganzen bereits passiert ist, auch als Möglichkeit gesehen werden, sich eines riesigen Archivs zu bedienen. Das Zeitalter der postmodernen Popmusik.
Die Band derer wir uns in dieser Ausgabe des Albums des Monats annehmen, zeigt, dass Gitarrenmusik im Jahre 2021 sehr wohl noch etwas zu erzählen hat. Black Country, New Road sind unvorhersehbar, blutjung, innovativ, selbstironisch, gewöhnungsbedürftig und nicht zuletzt: sehr, sehr gut.
Nachdem das Vorgängerprojekt Nervous Conditions aufgrund von Missbrauchsvorwürfen gegen den damaligen Sänger aufgelöst wurde, entschieden sich die restlichen Mitglieder dafür, unter einem neuen per Zufallsgenerator ausgelosten Namen weiterzumachen und beförderten den bis dato Gitarristen Isaac Wood zu einem Gitarristen-Sänger. In der Londoner Brixton Windmill, einem Club, der auch als Brutstätte allerhand weiterer Bands wie Goat Girl, Black Midi oder Squid dient(e), erregten die sechs Verbliebenen, alle um die 20, ab 2018 großes Aufsehen mit ihren teils abstrusen, aber doch immer spektakulären Auftritten. Wo E-Gitarre auf Geige, Schlagzeug auf Saxophon und Klavier auf Bass trifft, das ganze halbwegs stimmig ist und parallel auch noch ein recht begabter Texter am Werke ist, sind die Lobeshymnen natürlich nicht weit. Trotz des großen Zuspruchs war die Band aber mehr als zögerlich mit Veröffentlichungen in der folgenden Zeit. Nach den einschlägig als grandios eingestuften Singles „Athens, France“ und „Sunglasses“, die ihren Ruf einer ungeheuer dynamischen und Grenzen missachtenden Gruppe begründeten, war es auf Studioseite lange still, während man zu Liveauftritten auf der Insel laufend neues Material serviert bekam.
Im Oktober letzten Jahres kam dann schließlich die für die Fangemeinde sicherlich erlösende Nachricht, mit der viele aufgrund der Sorge, der Erwartungsdruck könnte zu zermalmend sein („The best band in the world“, schrieb The Quietus), schon gar nicht mehr gerechnet hatten: Begleitet von der Single-Auskopplung „Science Fair“ kündigten BC,NR ihr Debütalbum mit einem Titel an, der für einen Erstling wohl kaum passender sein könnte: For the first time.
Am 5. Februar erschien also die lang ersehnte LP. Beim Blick auf die insgesamt 6 Lieder, die es aufs Album geschafft haben, fallen recht schnell die altbekannten Singles „Athens, France“ und „Sunglasses“ ins Auge. Zwar textuell und in Sachen Melodien mehr und weniger umgebaut, waren diese Songs dennoch die Gründe für ihre rasch ansteigende Popularität. Signifikant sind nach wie vor jeweils ein geduldig spannungssteigernder Aufbau, der von Sekunde zu Sekunde an Intensität gewinnt, nur um in listiger Manier regelmäßig durch kakophonische Free-Jazz-Intermezzi dekonstruiert zu werden und immer wieder die Zielrichtung wechselt, sodass ein Lied meist eher aus 4 oder 5 Songs besteht, die dennoch nicht wahllos aneinandergereiht wirken, sondern in ihrer Gesamtheit eine Einheit bilden. Darüber sprechsingt ein taumelnder Adoleszenter, der sich zwischen intertextuellen Anspielungen auf eine sehr breite popkulturelle Lebenswelt, fragiler Identität, flüchtigen Gedanken und einem ständigen Balanceakt zwischen Ernst und Ironie oder Normalität und Wahnsinn versucht zu orientieren. Das Spiel mit der Authentizität und der Identität des Autors wird in sehr klarer Weise hinterfragt und überspitzt parodiert.
„I am invincible in these sunglasses
I am the Fonz, Iam the Jack of Hearts
I am looking at you and you cannot tell
I am more than the sum of my parts
[…]
I am modern Scott Walker
I am a surprisingly smooth talker
[…]
I’m more than adequate
Leave Kanye out of this
Leave your Sertraline in the cabinet“
In kindlicher Unvoreingenommenheit werden Stilrichtungen über- und nebeneinander gelegt – die Musikforschung spricht hier auch gerne von Genre-Fusion. Klassische Instrumente gehen eine Symbiose mit rockigen ein, ununterbrochen wird mit Erwartungen gespielt und wird diesen eine Absage erteilt. Das bleibt auf dem gesamten Album eine Konstante, wenn man das denn noch so nennen kann.
Und dennoch weiß die Gruppe stets Fans und Kritiker erneut vor den Kopf zu stoßen. Als wir BC,NR auf dem Reeperbahnfestival 2019 gesehen hatten, spielten sie neben den bereits bekannten Songs Lieder mit Elementen, die wir nicht anders als mit Polka oder Balkan zu betiteln wussten. Was uns damals wie ein einziges Spiel mit den Erwartungen der Musikindustrie erschien, war nichts anderes als eine radikale Erweiterung der postmodernen Auflösung von Genrekonventionen. Wie wir später lernen durften, handelt es sich dabei nicht um Balkan, sondern um Klezmer, jüdischer Volksmusik. Der Opener „Instrumental“, ein Instrumentalstück, sowie „Opus“, das letzte Stück des Albums, beziehen starke Einflüsse aus dieser Tradition, werden aber wiederum in sonderbarer und dennoch harmonischer Weise mit Rock- und Orchestralelementen verquickt.
Die permanenten Reminiszenzen, die BC,NR erwecken, erstrecken sich aber natürlich nicht nur auf Genres und popkulturelle Figuren, sondern reichen auch von der 90er Jahre Post-Rock-Band Slint, deren Gitarren und Spannungsaufbau unverkennbaren Einschlag in nahezu allen Liedern gefunden haben, bis zu Vertretern der sogenannten „Neuen Musik“ wie Steve Reich, dessen Mehrschichtigkeit in „Track X“ starke Bezüge aufweist. Letzteres enthält auch Vocals der Violinistin Georgia Ellery, die wie so viele andere Mitglieder auch abseits der Band musikalisch aktiv ist, neben dem Duo Jockstrap übrigens auch in einer Klezmer-Band.
Es wird aber nicht dabei belassen, diese Einflüsse zu erkennen zu geben. In wohl genauer Kenntnis der Parallelen, die von Journalisten und Kritikern gezogen wurden und eigener Interviewaussagen, die in der Presse behandelt wurden, heben sie diese selbstreflexiv selbst auf eine Metaebene.
[…]
„Just to think i could’ve left the fair with my dignity intact
And fled from the stage with the world’s second-best Slint tribute act
Okay, today, I hide away
But tomorrow, I take the reins
Still living with my mother
As i move from one micro-influencer to another
References, references, references
What are you on tonight?“
[…]
Black Country, New Road sind die postmoderne Band des 21. Jahrhunderts par excellence, vernachlässigen hierarchische Strukturen innerhalb ihrer Band und die Vormachtstellung etablierter Popmusik zugunsten einer völligen Zugewandtheit aller musikalischen und außermusikalischen Dimensionen, sodass der eigenen Entfaltung keine Barrieren den weiteren Werdegang versperren, in welche Richtung er auch immer gehen mag. Politisch will die Band dabei nach eigener Aussage nie sein, die Kunst soll immer im Vordergrund bleiben (Brexit finden sie natürlich trotzdem scheiße).
Recht bald könnte man sich übrigens schon über ein neues Album freuen, denn anscheinend hat die Band dermaßen viel Material über, dass es „for the second time“ reichen könnte. Schön wärs in jedem Fall, auch wenn ein gewisses Maß an Genügsamkeit einem dann und wann gar nicht so schlecht zu Gesicht stünde, frei nach der Bibel: „Sehet da, ich habe euch gegeben alle Instrumente, die Töne bringen, auf der ganzen Erde, und alle Stile mit Musikern, die Lieder bringen, zu eurer Speise.“
https://www.youtube.com/watch?v=pBa30H-QKt4&t=75s