Michel Deter

Kiefer - Between Days

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Mein Halbjahresalbum ist wahrscheinlich das uninteressanteste Album, welches ich dieses Jahr gehört habe. Wie bitte? Trotzdem hat es sich gegen alle anderen Kandidaten durchgesetzt. Warum? Erstens: Das mit großer Freude erwartete Album „Music“ von Benny Sings hat mich enttäuscht. Zweitens: Das wahrscheinlich Rekorde brechende Album von Anderson.Paak und Bruno Mars (Jetzt: Silk Sonic) lässt immer noch auf sich warten. Drittens: Die Musik-App meiner Wahl habe ich dieses Jahr eher zum Hören von Podcasts genutzt. Viertens: Klar, gab es spannendere Alben dieses Jahr, aber die habe ich trotzdem irgendwie nur drei-, viermal gehört und dann wieder ins digitale Regal gestellt und verstauben lassen. Oder es gab natürlich auch heiße Neuentdeckungen, welche aber aus den letzten Jahren stammen. Und fünftens: Musik lief dieses Jahr oft eher als Hintergrund-Mukke. Da liegt es nahe, dass ich mein Album genauso gut in der millionenfach gehörten YouTube-Playlist „lofi hip hop radio – beats to relax/study to“ entdeckt haben könnte. Kiefer (29 Jahre, San Diego, Kalifornien, Beatproduzent, Jazzpianist) liefert mit seiner 25-minütigen EP genau das. Ich kann auch gut verstehen, wenn Leute das nach mehrmaligem Hören eintönig finden. Trotzdem war es das Album, welches ich am häufigsten von vorne bis hinten abgespielt habe. Positive Vibes, solide Grooves, bisschen verspielt, nicht zu abgespacet. Einfach chillig. Danke, Ende.

Anspieltipps: “Between Days” & “Running Out The Clock”

Between Days

BY

Kiefer

Release

23.04.2021

Label

Stone Throw Recors

Jonas Breitner

Danger Dan - Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt

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Danger Dans zweites Soloalbum „Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt“ behandelt in elf Songs, alle musikalisch vom Klavier begleitet, einen ganzen Strauß an Themen:  Der Widerstand gegen Rechts, Sextourismus, Querdenker, die Abrechnung mit der alten Schule und der Umgang mit Depression; doch vor allem geht es um eines: die Liebe. Kein Scherz. In Liedern wie „Eine gute Nachricht“ oder „Trotzdem“ schafft es der Rapper Danger unironisch und einfühlsam die Liebe zu besingen.

Nach den Spotify-Charts und der medialen Aufmerksamkeit zu urteilen ist es wohl das bisher erfolgreichste Album des aus Aachen stammenden Künstlers. Der titelgebende Song „Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt“ wirft die Frage auf, wann Militanz gerechtfertigt ist. Danger Dan tritt hier weniger als Solo-Rapper der Gruppe Antilopen Gang auf, als ein Liedermacher, der die ballardenartige kabarettistische Form für sich entdeckt. Einzig im letzten Song „Beginne jeden Tag mit einem Lächeln“, in dem Kalendersprüche in eine musikalisch zerfasernde Klangwelt geschrien werden, kommen die Wurzeln der Antilopen Gang zum Vorschein.

Das Album hat hohe Wellen geschlagen. Wohl auch weil es ein Klavier- und kein traditionelles Rap-Album ist, spricht es eine andere Öffentlichkeit an. Jedoch ist es mehr als nur die klare Kante gegen Rechts. Ruhigere Songs wie „Tesafilm“ oder „Lauf davon“ haben im Vergleich wohl sträflich wenig Aufmerksamkeit bekommen. Es sei erwähnt: Die YouTube-Videos zum Album sind dabei alle wunderschön gefilmt und sehenswert. Kurzum: Hört rein, es lohnt sich.

Anspieltipps: „Tesafilm“ & „Eine gute Nachricht“

Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt

BY

Danger Dan

Release

30.04.2021

Label

Antilopen Geldwäsche

Anton Schroeder

William Doyle - Great Spans of Muddy Time

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Ein wenig klingt Great Spans of Muddy Time wie ein analog fotografierter Flatscreen. Das
Digitale ist präsent und gewissermaßen einziger Inhalt, dennoch gelangt es nur durch einen
“überholten” Filter ans Ohr des Hörers. Ab und zu verzerrt dieser das Dargestellte, ein
Lichtreflex wird nicht richtig wiedergegeben, einzelne Pixel verrutschen.
Die Erklärung für diesen außergewöhnlichen Sound ist etwas banal: ein Festplattenabsturz
sorgte dafür, dass von William Doyles Aufnahmen nur noch jene vorhanden waren, die
parallel per Kassette aufgezeichnet wurden. Nun gut, dachte sich Doyle, dann eben damit
weiterarbeiten. Schlecht hat das dem Album keineswegs getan, wenngleich natürlich nicht
genau lokalisiert werden kann, welche Glitches und Grobkörnigkeiten tatsächlich dem
“Unfall” zur Schuld fallen und welche dem Kalkül. Ist aber auch egal.
Und unter dem Störton? Stringente Popsongs mit großer Geste (etwa “And Everything
Changed”), daneben deutlich rauere, kryptische Ambient-Nummern, die von A nach B
mäandern, sich selbst ein Bein stellen, wieder aufstehen. Nach und nach verschieben und
vermischen sich diese zwei Ebenen der Great Spans, sodass bald nicht mehr ganz klar ist,
was nun was ist: die große Überlagerung findet auch hier statt, im Hintergrund einer
Ambient-Passage erscheint auf einmal entfernt Doyles klare Stimme, nun verzerrt,
fragmentiert.
Ein Album im Zeichen der Brüche ist Great Spans of Muddy Time also geworden. Und nichts
bringt dies so schön auf den Punkt wie die Namensgeschichte des Cover-gebenden
Gemäldes von Melchior de Hondecoeter. Lauter exotische Vögel sitzen darauf um einen
Teich herum, Ein Pelikan und andere Vögel an einem Teich lautete folgerichtig der Titel. Dieser
wurde über die Jahre jedoch verdrängt von einem anderen, einem winzigen Detail
entspringenden: Die schwimmende Feder. Manchmal ist die kleine Anomalie eben tonangebend.

Anspieltipps: “Semi-Bionic” & “Theme from Muddy Time”

Great Spans of Muddy Time

BY

William Doyle

Release

19.03.2021

Label

Tough Love Records

Fabian Borrmann

Pöbel MC - Stress und Raugln

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Pöbel MC sollte nach seinem 2020 erschienen Album “Bildungsbürgerprolls” jedem Hiphop-Fan bekannt sein. Mit der seltenen Mischung aus Eloquenz und Pöbelei rappte er sich in die Herzen vieler Hörer*innen. Dass er beim Label Audiolith unter Vertrag steht, das auch musikalische Größen wie Feine Sahne Fischfilet, Frittenbude oder Egotronic gesigned hat, lässt auch erahnen, dass seine Musik nicht ganz unpolitisch sein kann. Gesellschaftskritische Texte, teils mit autobiografischen Elementen, bei denen es soundtechnisch dennoch klar nach vorne geht, sind im Conscious-Rap eine gern gesehene Abwechslung.
Das neue Projekt “Stress & Raugln” kommt mit 8 Hits angebrettert und erinnert klanglich stark an “Bildungsbürgerprolls”. Oftmals sind fette Trapbeats zu hören auf denen sich Pöbel MC mit tighten Flows und wütender Stimme über Missstände unserer Zeit auslässt. Textpassagen wie: “Die Natur am abkacken, die Menschheit gast sich ins letzte chapter. Wer heute schon stirbt ist ein early adapter” oder “heute dick auf Level, morgen arbeitest du für Amazon, für’n Hungerlohn und’n Hundesohn.” sind linke Systemkritik vom Feinsten ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Natürlich gibt es auch viele humorvolle Lines und ein paar lockere Song bei denen es sich um Themen wie Rumatzen, gute Laune oder übermäßigen Bierdurst dreht.
Für mich ist es klar das beste Rap Album dieser Jahreshälfte und ich höre es immer noch täglich so oft, dass es langsam ungesund wird. Gönnt euch!
 
Anspieltipps: “Würde in Zahlen” & “Pumpe auf Stress; Polydipsie”

Stress & Raugln

BY

Pöbel MC

Release

09.04.2021

Label

Audiolith

Philipp Hechtfisch

Requin Chagrin - Bye Bye Baby

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Das Mondlicht spiegelt sich auf dem dunklen Meer wider. Hohe Wellen umschließen eine blondhaarige Frau im schwarzen Anzug. Im tiefen Blau leuchtet ihr verzerrtes Gesicht und scheint eins mit dem Wasser zu werden. Zwischen melodischen Synthesizern und sanften Indie-Gitarrensound singt die französische Künstlerin Marion Brunetto, oder besser bekannt als Requin Chagrin, über die Flucht ins Gestern. Immerwährend lastet die Nostalgie auf ihren Schultern, die sich wie ein roter Faden durch die Musik der Sängerin zieht. Zuletzt auch in ihrem dritten Studioalbum Bye Bye Baby. Verträumt und unaufgeregt streift Brunetto durch die Seiten ihres lyrischen Tagebuchs und verliert sich dabei im Strudel der Vergangenheit. So singt sie im Lied Juno : « Ça me colle à la peau / La mélodie / De nos rêves idéaux / Pour toute la vie / Ça me colle à la peau / Et tant pis / Je connais le numéro / La nostalgie… » (« Sie hängt mir nach / Die Melodie / Unserer verklärten Träume / Das ganze Leben / Hängt sie mir nach / Und viel schlimmer noch / Ich kenne die Zahl / Die Nostalgie… ») und spricht damit wahrscheinlich vielen Menschen dirket aus der Seele.
Aufgewachsen in einem kleinen französischen Dorf an der Küste wagte die Künstlerin vor ein paar Jahren den Schritt in die Großstadt. Ein Umbruch und Lebenswechsel, der im Kontrast zum bisherigen provinziellen Leben vor allem im Vorgängeralbum Sémaphore verarbeitet wurde und bis heute nachwirkt. Das zentrale Element des Wasser verweist immer wieder auf ihre Heimat und wird auch in Bye Bye Baby fortgesetzt. Doch zwischen Nachtschwärmerei und Mondgeflüster blitzt der Aufbruch ins Unbekannte. Ein Blick Richtung Zukunft.

Anspieltipps: „Juno“ & „Perséides“

Bye Bye Baby

BY

Requin Chagrin

Release

09.04.2021

Label

Sony Music Entertainment France, en Joint-Venture avec KMS Disques

Hannes Recknagel

Mr. Hurley & die Pulveraffen - Seemannsgrab

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Jo ho ho und ne Buddel voll Rum!
Die wohl beste Piratenband der Republik sticht wieder in See. Die Rede ist nicht von Santiano, sondern von „Mr. Hurley & die Pulveraffen“
Fest verwurzelt in Sea-Shanties und der Mittelalterszene sinddie 4 seit 2012 unterwegs. 
Nun ist mit Seemannsgrab der neuste Höhepunkt der Piratenkarriere erreicht.
Der einzigartige Sound ihres „Grog’n’Roll“, bleibt erhalten und nimmt mehr fahrt denn je auf. 
So werden klassische Themen von Seefahrerliedern wie Tod, Liebe, Einsamkeit und Alkohol aufgegriffen und musikalisch neu verpackt, welche vor allem zu letzterem der Aufzählung einlädt. 
Die 4 Geschwister aus Osnabrück zeigen sich in einigen Songs nun auch musikalisch offen politisch. In „Mann über Bord“ wird Sexismus angesprochen und „Brand an Bord“ hat nicht etwa starken Durst auf einem Segelschiff zum Thema, auch wenn das der Erwartung entsprochen hätte. Es geht metaphorisch um den Klimawandel und um die ihn betreffende Ignoranz. Die politischen Lieder sind aber nur das Sahnehäubchen auf dem Albumkuchen. Das Fundament besteht aus dem, was man kennt. Lustige und Selbstironische Texte gepaart mit Gitarre, Akkordeon und Schlagzeug.
In „Grogstar“ wird das wilde Leben als Musiker einer eher kleinen Szene beschrieben, oder in „Hals über Kopf“ die misslungene Ausführung des Ganges über die Planke, weil man vergessen hat vorher in See zu stechen. Diese humorvollen Lieder über das fiktive Leben zur See sind seit Anfang an das erste Merkmal der Band. Wo andere Piraten die Karibik unsicher machen und Plündern schlagen sich 2 der Pulveraffen in einer Kneipe um einen neuen Hut. Ruhiger als in „Mit’n Hut“ geht es in „Dich und das Meer“ zu, der obligatorischen Ballade, die auf keinem Album fehlt. Kritik wird neben Sexismus auch an Labertaschen und Quacksalbern geübt, die in „Schotten dicht“ aufgefordert werden, ihr Mundwerk im Zaum zu halten.
Das Interessanteste am Album ist aber das zwischen den Tracks eingebettete Mini-Hörbuch „Blakes Exitus“, bei dem der fiktive Kapitän Blake versucht, sein Ableben rückgängig zu machen und dabei auf Charon vom Kahn springt, einen ihm bekannten Dämon trifft und eine Schießerei in Walhalla anfängt. Diese kleinen Hörspiele sind seit dem 3. Album in ihrer Form ein Muss auf jedem Pulveraffen-Album und werden regelmäßig von Künstlerkollegen und anderen Bekannten unterstützt.
Insgesamt ist Seemannsgarn genau das, was man von den Pulveraffen erwartet hat und keiner der Songs überrascht. Diese Erwartungen wurden aber mehr als erfüllt und herausgekommen ist ein tolles Album für alle, die sich in der Mittelalter-Szene zuhause fühlen, oder einen kleinen Exkurs wagen wollen.

Anspieltipps: „Seemannsgrab (40 Faden tief)“ & „Mann über Bord“ & „Grogstar“  

Seemansgrab

BY

Mr. Hurley & die Pulveraffen

Release

05.03.2021

Label

Vertigo/ Capitol; Affeninsel

Szymon Chrost

Yu Su - Yellow River Blue

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Benannt nach einem verschlammten Fluss, ist Yellow River Blue Yu Sus erstes Album in voller Länge. Inspirieren ließ sich die sino-kanadische Musikerin während einer Tournee entlang des gelblichen chinesischen Huang He Flusses im Jahr 2019. Laut Bandcamp wurde es „zu Hause in Seattle, Los Angeles, Kaifeng, Shanghai, Vancouver, Mesachie Lake und Chemainus geschrieben und aufgenommen“ – das Debütalbum klingt nicht nur wie ein musikalisches Reisetagebuch.

All diese Tracks führen uns durch die Reise. Es ist sanft, intuitiv und unerwartet. Die Expedition beginnt mit ”Xiu“, einer Mischung aus Uptempo-House-Musik und traditioneller chinesischer Musik. ”Touch-Me-Not“ ist um sich langsam entwickelnde, wunderschön schimmernde Synthesizer aufgebaut, die sich in letzter Sekunde langsam ausrollen. Das Thema Natur kommt auf ”Gleam“ voll zur Geltung, wenn Wassertropfen im Vordergrund um leichte Percussion und Synthesizer widerhallen, was eine großartige Gesamtkulisse schafft. Im Kontrast dazu steht wiederum das mechanisch-industrielle Chaos auf ”Klein“.

Yu Sus Album besteht aus acht Songs, die sowohl in der Schreibweise als auch in der Ästhetik vielseitig sind. Sie kombiniert Klänge und Inspirationen unterschiedlicher Herkunft zu einem neuen Reiseziel, das wie ihr Zuhause klingt. Es ist eine Veröffentlichung, die ständig in Bewegung ist und sich fließend zwischen Trip Hop, Dancefloor-Experimenten und Ambient bewegt. Was für eine schöne Reise.

Anspieltipps:  “Xiu” & “Malaleuca”

Yellow River Blue

BY

Yu Su

Release

22.01.2021

Label

Yi Shi Yi Se (Beijing) Cultural Communication Co., Ltd.

Peggy Rudolph

London Grammar - Californian Soil

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Vier Jahre sind vergangen seit der Veröffentlichung ihres letzten und zweiten Albums Truth is a Beautiful Thing. Im April 2021 war es nun endlich soweit. Die britische Indie-Pop-Band London Grammar brachte ihre neue Platte Californian Soil heraus – mein Highlight der erste Jahreshälfte!
London Grammar besteht aus Sängerin Hannah Reid, Gitarrist Dan Rothman und Schlagzeuger Dominic “Dot“ Major, wobei letzterer erst später zur Band dazu stieß. Dies markierte auch den Beginn einer stetig wachsenden Musikkarriere, denn nun schrieb die Band erste eigene Songs. Der Durchbruch gelang ihnen mit „Hey Now“ im Jahre 2013 und kurz darauf wurde ihr Debütalbum If You Wait veröffentlicht.
Californian Soil ist nun also das dritte Album der Band, bestehend aus 12 belebenden und trotzdem melancholischen Songs und einem träumerisch-sphärischen Intro. In jedem Track begeistert Sängerin Hannah Reid mit ihrer kraftvollen, beruhigenden und sanften Stimme ihre Zuhörer·innen. Fast schon magisch. Außerdem verbinden sich auch bei dieser Platte klassische Synthesizer-Töne mit Streichinstrumenten und bilden somit eine Art Balance zwischen symphonischen Klängen und Elektronik.
Das Gefühl, dass London Grammar in diesem Album direkter, energiegeladener und stärker wirkt, bestätigt sich in den Lyrics der Songs. Irgendwie wirken sie politischer. Amerika spielt eine große Rolle, wie es der Titel des Albums bereits erahnen lässt. Die Band bricht mit dem “American Dream” (Californian Soil), aber auch die Geschlechterungleichheit in der Welt, vor allem auch in der Musikindustrie wird adressiert („Lord It’s A Feeling“, „Call Your Friends“). Denn auch diese ist noch immer stark dominiert von Männern.
Das sind schwergewichtige Themen. Wie schafft es nur London Grammar immer wieder, dass Klänge und Töne der Songs so ungefährlich und poetisch klingen?

Mein Liebling in den Halbjahrescharts: Ein Album, welches sich für ruhige und nachdenkliche Momente eignet – für Momente, in denen man Mut und Kraft sucht. Denn diese Platte transportiert eine Menge Energie.

Anspieltipps: „Californian Soil“ & „Lord It’s A Feeling“

Californian Soil

BY

London Grammar

Release

16.04.2021

Label

Ministry of Sound Recordings Ltd, Universal Music International

Charlotta Westphal

mofie - Black Hole / Finding Harbours - Forever or Whatever That Means

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Halbjahrescharts sind bei mir immer so eine Sache. Aus einem halben Jahr voller Veröffentlichungen soll ich mir ein einziges Album aussuchen, das ich hier als mein Highlight präsentiere – wie soll das gehen? Eigentlich möchte ich diese Plattform nutzen, kleinere deutsche Künstler*innen vorzustellen und dem männlichen „Übergewicht“ in der Musikbranche irgendwie entgegenzuwirken. Leider ließen sich dieses Halbjahr nicht beide Vorsätze in einem Album vereinen. Also verstoße ich einfach mal ganz ungeniert gegen die Regeln und stelle euch zwei EPs vor (ganz nach dem Motto: 2EPs = 1 Album).

Part I – Mofie mit “Black Hole” (EP)

Wie fühlt es sich an erwachsen zu werden – irgendwie nicht gut, oder? Zwischen Verwirrung, Gefühlschaos und Unsicherheit soll man auf einmal sein Leben komplett selbst managen und dabei hofft man doch nur, eines Morgens aufzuwachen und keine Angst mehr vor einem Anruf beim Arzt zu haben. Den passenden Coming-Of-Age-Soundtrack zu all diesen Gefühlen liefert die junge Künstlerin Morgan Fields. Unter ihrem Künstlernamen Mofie veröffentlichte sie am 2. April ihre erste eigene EP „Black Hole“ und damit ein feines Stück Dream-Pop, das nicht nur sanft, sondern auch sehr catchy und mitreißend sein kann. Butterweich singt sie vor allem über ihre eigene Gefühlswelt und die Probleme, die das Erwachsenwerden so mit sich bringt.


„WAITED ALL THIS TIME FOR THE BEST YEARS OF MY LIFE / NOW IT’S HERE AND IT’S A LIE BUT AT LEAST I KNOW THAT “

Ich glaube, gerade mit diesem Gefühl des Wartens auf die Erleuchtung des Erwachsenseins können sich viele Zuhörer*innen identifizieren. Man hofft die ganze Zeit auf die große Veränderung und realisiert doch irgendwann, dass diese einem so wahnsinnig wichtig erscheinende Eingebung darüber, wie und was man hier eigentlich macht, einfach ausbleibt. Irgendwie ist jede Entscheidung immer noch genauso ein Krampf wie vorher und auch die Ängste sind nicht einfach irgendwann verschwunden. So stolpern wir alle gemeinsam durch dieses Leben und gerade da setzt Mofie mit ihrer EP an. „Ihr seid nicht allein“ scheint sie sagen zu wollen und reicht den Zuhörer*innen zärtlich und liebevoll die Hand.

Anspielempfehlung: “Swing & a Miss”

Part II – Finding Harbours mit “Forever or Whatever That Means” (EP)

Und auch meine zweite Empfehlung hat keine Scheu davor, die großen alltäglichen Dunkelheiten der eigenen Psyche offenzulegen.

„IT BREAKS ME TO SEE MY GRANDMA GETTING OLD“

Die neue EP „Forever or Whatever That Means” der Melodic-Emo-Punk-Band Finding Harbours aus Karlsruhe ist meine deutsche Herzensempfehlung für Euch. Eigentlich möchte man sich bei diesen kurzen, teils vor Traurigkeit triefenden Texten auf der Couch zusammenrollen, die Decke über den Kopf ziehen und weinen.

„I’M HAPPY TO BE SAD AGAIN / THE WORST FEELING IS FEELING NOTHING“

Allerdings lässt Finding Harbours dazu nicht wirklich Gelegenheit, denn hier wird nicht im stillen Kämmerchen gelitten! Die Dynamik der Songs macht es unmöglich nur rumzuliegen und leise vor sich hin zu leiden. Gefühle müssen raus! – und genau unter diesem Mantra zieht einen „Forever or Whatever That Means“ von der Couch und fordert zum Mitbrüllen, Tanzen und Rumspringen auf. Gerade jetzt, wo sich die ersten Öffnungen nach der langen Lockdownphase im Alltag langsam bemerkbar machen und viele immer noch mit der Überforderung oder den Nachwirkungen der Pandemie zu kämpfen haben, tut diese EP einfach unfassbar gut. Sie holt die (hoffentlich noch nicht verstaubte) Lust auf Konzerte erst so richtig hoch und verarbeitet nebenbei trotzdem die Schwere, die in all dem liegt, was wir durchgemacht haben. Auch wenn sich „Forever or Whatever That Means“ textlich nicht auf die Pandemie bezieht, fügt sich die EP in meinen Augen lückenlos in diese Zeit ein und gibt Kraft und neue Energie für den kommenden Sommer mit.

Anspielempfehlung: “Stay”

Black Hole

BY

mofie

Release

02.04.2021

Label

Roseville

Forever or Whatever That Means

BY

Finding Harbours

Release

25.06.2021

Label

iwishicouldstay

Stella-Angelina Hegedüs

Milliarden - Schuldig

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Klopf, klopf – Herein<< (Schuldig sein) – so bat ich das Album von Milliarden in mein Leben. Es solle kommen, ich war bereit, nach 3 Jahren neue Lieder der Berliner Jungs zu empfangen. Und wie ich hoffte, wurde ich nicht enttäuscht.
Es geht um Liebe, Sex, Leben & irgendwie auch Herzschmerz. Der Frage nach zu eifern, was das Leben ist & welche Bedeutung es haben könnte.
Auch auf diesem Album sind Gitarre, Klavier & Schlagzeug die Hauptinstrumente, die in jedem Lied vertreten sind. Manchmal als leisere Begleitung (Die Gedanken sind frei), aber oft auch bringen sie das Gefühl einer moshenden Menschenmenge in einem zum Ausdruck (Trenn dich).
Die unverkennbare Stimme des Frontsängers Ben zieht Zuhörer:innen in einen Bann, der sich nicht so schnell wieder löst.
Milliarden kann beides: melancholisch nachdenklich (Himmelblick) & gleichzeitig wild & frei sein (Wenn ich an dich denke).
Eines weiß ich nach diesem Album genau: mit euch will ich schuldig sein!

Anspieltipps: “Wenn ich an dich denke” & “Die Gedanken sind frei”

Schuldig

BY

Milliarden

Release

05.02.2021

Label

Zuckerplatte

Philipp Mantze

Black Country, New Road - For the first time

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Musik – was war das eigentlich noch gleich? Diese doch recht trivial und eher angestrengt philosophisch wirkende Frage soll hier nicht Fässer öffnen, die umlängst geplündert und ausgesondert wurden, . Die große Frage nach der Musik sollen, wollen und können wir oder ich hier nicht exerzieren, aber die Band deren Album mich dieses Jahr definitiv am meisten begeistert hat, macht gewisse Metaexkurse leider unausweichlich. Die Oxforder Band Black Country, New Road hat Februar diesen Jahres ihre langersehnte Debüt LP For the First Time veröffentlicht und es erstaunlicherweise geschafft, die gigantischen Erwartungen irgendwie zu erfüllen.

Schon das Grundgebilde macht stutzig: sieben Boys and Girls, Anfang 20, die von Gitarre und Bass über Saxophon und Schlagzeug bis zu Geige und Klavier instrumental alles abstecken. Im inneren Ohr macht sich ein schulmeisterliches „Die wollen doch nur provozieren“ breit, was sicherlich irgendwo stimmen mag, sich allerdings auch ebenso schnell wieder verflüchtigt, sobald man die Band spielen und ihr mehr als demütiges Auftreten in Interviews gesehen hat.

Bereits die ersten Veröffentlichungen „Athens, France“ und „Sunglasses“ 18/ 19 haben einen kleinen Hype in der britischen Independent-Szene ausgelöst und weder Fans noch Kritiker wussten mit Lob zu sparen ob der doch recht unorthodoxen Songs. Hier wurde Kakophonie im Improvisationsstil mit schweißtreibenden Spannungsbögen und -brüchen verzahnt, vieles vermischt, was andernorts auf der Welt unter Umständen noch die Zensurbehörden auf den Plan rufen würde.

Der eklektizistische Charakter rührt nicht aus jugendlichem Trotz, sondern schlicht aus unterschiedlichen musikalischen Hintergründen. Saxophonist Lewis Ewans etwa wurde, wenig überraschend, eher jazzig geprägt, Violinistin Georgia Ellery spielt nebenbei noch in einer Klezmer-Band (Klezmer = jüdische Volksmusik) und ist Teil des elektronischen Duos Jockstrap. Und obwohl wir es dann mit teils scheinbar unvereinbaren Richtungen zu tun haben, hat das befreundete Septett eine harmonische Symbiose miteinander gefunden, dass kein Instrument eine herausragende Rolle einnehmen soll, niemand sich in den Vordergrund spielt, sondern jeder Teil der Band gleichermaßen Anteil an dem hat, was wir letztlich zu hören bekommen. Den Kraftakt, sieben teils drastisch unterschiedliche Köpfe musikalisch unter einen bequemen Hut zu bringen, erklären sie mit einem scheinbar einfachen Rezept: Freundschaft.

Referenzpunkte sind bei BCNR ein wichtiges Thema und waren von Beginn an Anlass für wildeste Vergleiche. Die kurzlebige aber extrem einflussreiche 90er-Jahre Band Slint ist ein Dauerbrenner, ebenso die Post-Rock-Genossen Godspeed You! Black Emperor, die auch bereits Klezmer mit Rockmusik zu vereinen suchten. In puncto Spannungsaufbau hat sich die Band ohne Zweifel an diesen Größen bedient, denn der ist im Grunde in jedem der sechs Songs maßgebend. Gleichzeitig kommt ein „Track X“ wiederum daher, wie eine Steve Reich Auslegung. Die Band geht den Trend der sukzessiven Genreauflösung mit, trägt ihn viel mehr mit, wo sie auf der einen Seite Mauern einreißen, bilden sich andernorts neue, vielleicht sogar bessere Synergien.

Während man sich im Instrumentarium munter fort in Parallelen ergötzen könnte, bleibt die textliche Ebene des Sängers und Gitarristen Isaac Wood nicht minder referenziell. Wood bedient sich dem großen Pop-Kosmos, ganz gleich ob er Phoebe Bridgers, („Why don’t you sing with an english accent? Well i guess it’s too late too change it now“) oder Bruce Springsteen („I was born to run“) zitiert, Kanye West in Schutz nimmt („Leave Kanye out of this“), sich mit Scott Walker vergleicht („I am modern Scott Walker“) oder die Gaderobe von Jugendlichen aus väterlicher Perspektive in Frage stellt („I wish all my kids would stop dressing up like Richard Hell“).

Er löst das Authentizität-Dilemma gekonnt postmodern auf, selten weiß man, wer hier gerade spricht, in wie weit etwa ironisch gewitzelt oder bitterernst der eigene Nervenzustand per stream of consciousness verbalisiert wird. Man weiß letztlich so viel: die Texte entstehen in Woods Notiz-App, nach und nach. Black Country New Road profitiert auch sehr stark von einem lebendigen ungemein innovativen Umfeld. Die Brixton Windmill in Südlondon scheint in den letzten Jahren für die aufstrebende Independentszene das zu sein, was vielleicht einst Warhols Factory in New York oder der Star Club im Hamburg der 60er Jahre war. Die neuen Beatles sind sie natürlich nicht, aber es scheint, dass mit Black Midi, Squid und co eine neue Ära angebrochen ist, die ihrerseits viele Nachahmer finden dürfte. Auf ein second time!

Anspieltipps: “Sunglasses” & “Opus”

For the First Time

BY

Black Country, New Road

Release

05.02.2021

Label

Ninja Tune