Wenn der Sommer und damit der Festivalsommer endgültig vorbei sind und die Zelte auf dem ländlichen Acker abgebaut sind, läutet die Hansestadt schon wieder und lockt in seine so berüchtigt-verruchte wie Glück (oder zumindest Spaß) verheißende sündige Meile.

Alle Bands wollen hin, alle Festivals wollen so sein wie es: Seit 2006 verwandeln sich die Clubs auf St. Pauli für vier Tage im Spätseptember in Spielstätten, die nicht nur Platz für hunderte etablierte wie neu eintrudelnde Künstler*Innen bieten, sondern in der Conference auch unzählige Panels, Diskussionen und Workshops ausrichten. Jedes Label, jedes Musikblatt, das was auf sich hält, ist vor Ort. Ihre Vertreter*innen streifen durch die Clubs, scouten den nächsten großen Hit und diskutieren Expert*innen aus unterschiedlichsten Sparten über den Zustand der Musikbranche und weit darüber hinaus.

Auf dem Spielbudenplatz, nachts um halb 1 (ca.) | Foto: Max Hartmann

Das Festival ist damit einerseits Networkingplace und bringt junge Bands mit Plattenfirmen und Bookingagenturen zusammen, aber auch ein wichtiger Ort des Diskurses. So ist, selbst wenn der Schein es vermitteln möge, Geschlechtergerechtigkeit auch noch heute ein großes Missstand in der Musikbranche. Seit 2019 setzt sich daher unter anderem die Keychange Initivative als wesentlicher Bestandteil des Festivals für mehr Repräsentation benachteiligter Geschlechter ein. Auch Belange, die mit digitaler Kultur einhergehen, werden dieses Jahr erstmalig in Zusammenarbeit mit der re:publica in großem Rahmen angegangen. Das volle Programm seht ihr hier.

Das Musikprogramm wartet dieses Jahr mit Headlinern wie The HivesArab Strap, Altin Gün, Temples, Holly Humberstone und vielen weiteren auf. Das Reeperbahnfestival ist aber eher ein Ort zum Erkunden und Entdecken, zum sich eng getaktete Pläne machen, um sie in aller letzter Sekunde wieder für ein spontanes Konzert im nächsten Club über Bord zu werfen. Vielleicht aber auch das Next Big Thing (und sei es nur für einen selbst) zuerst auf großer Bühne zu hören. Da wir nun endlich nach 2019 auch wieder dabei sind, haben wir uns vorfreudig zehn Programmpunkte der musikalischen Art rausgesucht. Dabei ist die Auswahl primär der Nase nachgegangen, rein subjektiv, aber dennoch von unserer Musikredaktion in Stunden schweißtreibender Hörerei auserlesen.

Geese 

Die New Yorker Band hatte sich mit ihrem ersten Album “Projector” (in unserem Oktober 2021 Plattenbau besprochen) nach der Meinung mancherlei böser Münder den (zweifelhaften) Ruf einer Strokes-Nachfolgeband erspielt: eine fünfköpfige All-Male Band aus der Ostküstenmetropole, die mit viel Pose und einem enorm jungen Alter (seinerzeit waren sie gerade der High school entschlüpft) aus dem Nichts kam. Auch wenn das über die Qualität ihrer Musik nichts aussagte, so scheinen sie sich ihrer Vorgängergeneration doch losgesagt zu haben: auf “3D Country” erinnert nun so gar nichts mehr an die Urväter des 2000er-Gitarrenrevivals. Stattdessen bedienen sie sich frivol der musikalischen Traditionen ihres Heimatlandes, schichten Soul, Country, Americana und Folk mit Garage und Indie in einer dennoch harmonischen Gesamtkomposition. Und obendrein sind sie auch noch eine fantastische Live-Band.

Deathcrash 

Wie Geese ist auch Deathcrash eine der Bands, die wir seit Jahren auf der Bühne sehen wollen. Sonst scheint es auf den ersten Blick allerdings nicht allzu viele Gemeinsamkeiten zu geben, höchstens noch: männlich und Rock. Die Londoner Slowcore-Band Deathcrash spielen in ihren Songs meist triste und klagende Töne an. Das Schlagzeug gibt niedrigschwellig in beinahem Stillstand den Takt vor, Gitarre und Bass sind in dystopischem Moll gehalten, gekreuzt mit Distorter und Reverb. Der Gesang wirkt zerbrechlich und gezeichnet, wie im Moment einer bitteren Trennung.  Höchst unzeitgemäß, möchte man anmerken. Und immer mal wieder kommt es zu Emo-(tionalen) Ausbrüchen, werden die zurückgehaltenen Gefühle in eruptiven Austößen in die Welt getragen. Aber auch sie haben ihre Musik nicht aus dem Boden gehoben, sondern eher mit der Muttermilch aufgesogen. Codeine, Slint, Bedhead und wie sie alle heißen sind Deathcrashs Urahnen. Und nun in Hamburg zugegen. Wie feierlich das wird, bleibt abzuwarten.

cotoba

Dass Südkoreas Musikkultur mehr als nur K-Pop ist, fällt in der internationalen Wahrnehmung gerne unter den Tisch. Seit Jahren ist das Reeperbahn Festival aber auch dafür bekannt, in Kooperationen spannende koreanische Musik auf die Hamburger Bühnen zu bringen.

Turbulent und dynamisch geht es etwa bei cotoba zu, für große Pose bleibt bei der Schwerstarbeit, die an den Instrumenten vollführt wird, nicht sonderlich viel Zeit. Zu komplexen Rhythmen und Melodien wird in alter Math-Rock-Manier angesetzt, allerdings nicht wie bei einigen US-amerikanischen und japanischen Vertretern der Zunft, die schnell an Geduld und Verstand nagen. Ob mit Gesang oder rein instrumental, wird der Ausbreitung der Stimmungen viel Raum gegeben und nicht frickelnderweise alle 20 Sekunden wieder die Richtung gewechselt. Es entwickelt sich eine Art Strohm, ein immersiver Sog, der gerade durch die Dynamik auf der Bühne freigesetzt wird und beständig über Minuten alle Aufmerksamkeit in sich aufzehrt. Dass das auch ohne Frontsängerin Sei, die fortan solo unterwegs sein wird, gelingen kann, wird die Band mit ihrem neuen Album, das sie auf ihrer EU/UK-Tour vorstellen, noch unter Beweis stellen müssen.

Tirzah

Pünktlich bevor sie das Hamburger Publikum mit ihren verhuschten Bedroomhits bezirzen wird, hat Tirzah mit ihrem frischen und catchy betitelten Album trip9love…??? kürzlich eine mehr als würdige Nachfolge für Zweitling Colourgrade und ihr längst Klassiker gewordenes Debüt Devotion präsentiert. An der Erfolgsformel wurde (erfreulicherweise) wenig geschraubt: Rudimentäres Knarzen und einsame Pianoloops meet RnB-Gravitas, noch immer schwingen dabei die Vibes von Acts wie LoFi-Poptitan Dean Blunt und Tirzah-Produzent:in Mica Levis alias Micachus eignem Schaffen durch den Raum. Neben Berlin ihr einziger Auftritt in Deutschland, also kommet in Scharen, Freund*innen der leicht neben der Spur laufenden und auf Nebenwiesen grasenden Popmusik.

Claus & Clausen

In diesem Namensstammbereich sicher das stärkste Duo seit den unanfechtbaren und – auch das ist Teil der Wahrheit – vom Reeperbahnfestival 2023 sträflich übersehenen Nordseerockern Klaus & Klaus, vereinen die Einzelbestandteile Gaspar Claus, eher in den Bereichen Elektroakustik und Modern Classical unterwegs, sowie Casper Clausen, bekannt aus der dänischen Indie-Band Efterklang, ihre jeweiligen Ansätze zu einem eigenständig dröhnenden Ambientpop-Komglomerat. Mal garstiger (Threesomeness), mal zärtelnder (Lisboa), entfaltet sich über die bisher einzige gemeinsame Veröffentlichung  – ein selbstbetiteltes Album aus dem Jahr 2016 – ein beständig unruhiges Schwelen, das an Scott Walkers Kanonwerk The Drift erinnert. Lassen wir uns überraschen, was die Cläuse für das Reeperbahnfestival 2023 planen!

Peace Flag Ensemble

Derart pastoral tönt es aus den Boxen, dass man fast meinen möchte, der Jazz-Fünfer Peace Flag Ensemble sei wahrhaft in friedensstiftender Mission unterwegs. Astral Plains heißt das jüngste, im Juli 23 erschienene Werk der Kanadier. Stimmungstechnisch in Richtung Ambient schwebend und gleitend, stehen beim Peace Flag Ensemble weniger die Dynamik und das Zusammenspiel einzelner Instrumente oder technisches Könnertum im Vordergrund, sondern vor allem das Erzeugen von subtilen Flächen und variationsreichen Atmosphären. So kann man sich auch ganz wundervoll durch die 42 Minuten von Astral Plains tragen lassen, ohne dass ansatzweise das Gefühl von Eintönigkeit aufkommt – und das wird es sicher auch nicht am Donnerstag um 21.25 uhr in der Nochtwache!