Wir kommen am Morgen des zweiten Oktobers in Moskau an und gönnen uns erst einmal ein großes Frühstück. Danach teilen wir uns auf und erkunden in individuellen Grüppchen noch einmal die russische Hauptstadt. Einige fahren mit der neuen S-Bahn-Ringlinie eine Runde um die ganze Stadt, andere schauen sich Moskau von einem Aussichtspunkt von oben an und zwei holen noch einen Besuch im Kreml nach.
Nach einem gemeinsamen Abendessen geht es zum Kiewer Bahnhof, wo wir im Nachtzug sofort unsere Abteile entern und es uns gemütlich machen. Die Nacht verspricht etwas unruhig zu werden, denn wir überqueren die russisch-ukrainische Grenze. Das bedeutet russische Ausreisekontrolle gegen vier Uhr morgens, die ukrainische Einreisekontrolle ist für halb 6 angesetzt. Dazu kommt auch ein bisschen die Neugier, wie die Kontrolle ablaufen wird. Werden die Ukrainer jede Schraube einzeln filzen? Wie werden sich die Passkontrolleure verhalten?
Die Kontrolle selber läuft sehr entspannt ab. Für die russischen Grenzer sind wir wohl eher ein Betriebshindernis, denn 8 deutsche Pässe bedeuten einen gewissen bürokratischen Aufwand. Doch auch das ist schnell geklärt. Wir bekommen unsere Ausreisestempel und der Zug setzt sich gen Ukraine in Bewegung. Gerade wieder eingeschlafen wird man schon wieder munter. Ein junger Zollbeamter begrüßt uns auf Englisch (in dieser Region nicht selbstverständlich) und offensichtlich ist es auch für ihn eine Überraschung acht Deutsche in diesem Wagen zu haben. Im Gegensatz zu den Russen scheint er sich aber darüber sehr gefreut zu haben. Nach kurzem Smalltalk bekommen wir alle unsere Einreisestempel in den Pass und er verabschiedet sich mit einem fröhlichen „Welcome to Ukraine!“ Eine Einreise in ein Land, dass sich im Kriegszustand befindet, noch dazu mit dem Land aus dem man gerade kommt, stellt man sich schon etwas anders vor. Im Zug befinden sich zahlreiche Russen, auch für diese gestaltet sich die Einreise unproblematisch, wenn auch weniger herzlich.
In Kiew angekommen nutzen wir zunächst die Möglichkeit im Hostel zu duschen, nach zwei Tagen auch überfällig. Danach erkunden wir die ukrainische Hauptstadt. Mit dem Wetter haben wir jetzt wieder mehr Glück, denn es sind über 20 Grad. Die Sonne scheint und kaum ein Wölkchen trübt den Himmel. Wer nun Panzer, Armeefahrzeuge, Soldaten oder ähnliches erwartet hat, der wird auch hier enttäuscht. Die Menschen auf den Straßen sind fröhlich, es wird gelacht, in den Bars gibt es viel zu trinken und es läuft westliche Musik. Am Denkmal der Völkerfreundschaft gibt es den nächsten Widerspruch zur aktuellen politischen Situation, denn es symbolisiert mit zwei großen Statuen speziell die ukrainisch-russische-Völkerfreundschaft. Das Denkmal liegt auf einem hohen Hügel von wo aus man eine gute Aussicht über große Teile Kiews und den Dnjepro hat. Wir erkennen am Flussufer auf der anderen Seite einen Strand und scheinbar gibt es auch Kneipen.
Uns überkommt die Lust auf ein Bier. Doch wie sollen wir da runter über diesen recht breiten Fluss kommen? Noch dazu auf die andere Seite. Kein Problem! Wozu gibt es denn die Seilbahn! Aber nicht so ein 0815-Ding mit Kabinen oder sowas Ähnlichem. Nein, man hängt sich an einen Gurt, wird noch mit zwei Schutzgurten gesichert und schon geht’s los! Inklusive frei baumelnder Füße und Superausblick über die ganze Stadt. Am anderen Ufer dann die Ernüchterung: es hat nur eine Strandbar geöffnet und diese führt kein Bier! Stattdessen erwartet uns etwas anderes: Namaste! Peace! Willkommen in der wohl tollsten Hippie-Kneipe in der östlichen Hemisphere. Dass man ausgerechnet in der Ukraine so etwas findet, hat schon etwas von böser Ironie wenn man bedenkt, dass bei Kämpfen in der Donbassregion immer noch Menschen sterben und die Waffenruhe sehr brüchig ist.
Insgesamt gibt es in Kiew zwei Orte die einem die Situation klar machen: Der Maidan ist zum Symbol für die Proteste geworden, hier starben auch zahlreiche Demonstranten. Daher gibt es dort zahlreiche Bilder, die an die Toten erinnern, verziert mit Blumengestecken und Tafeln mit Namen und Alter. Immer wieder kommen Menschen vorbei, bleiben stehen, betrachten die Bilder und halten inne. Es ist neben dem Hauptbahnhof, bei dem dann doch mal viele Soldaten zu sehen sind, der einzige Ort der einem die Geschehnisse der letzten Jahre vor Augen führt.