Abseits der großen Listen von Pitchfork, Rolling Stone, dem Musikexpress oder den fast schon unheiligen Intro-Jahrescharts haben wir uns beim Campusradio seit Jahren (2013, 2014, 2015, 2016) eine kleine Nische gebaut, in der wir als Redakteure über unsere drei liebsten Alben des Jahres schreiben. Dabei spielt es keine Rolle, ob sich die Titel mit dem Mainstream decken oder so weit unter dem Radar fliegen, dass man (nur) zufällig darüber stolpern könnte. Die Hauptsache ist, dass sie in diesem Jahr in uns etwas ausgelöst haben, uns in schönen wie schwierigen Situationen begleitet haben. In manchen unserer Reviews mag vielleicht genauso viel Herzblut stecken wie in der Platte selbst! Aber klickt auf die Cover und lest selbst. 15 Redakteure, 45 Alben – hier ist das Beste von 2017.

Alba Kemmer Alonso

Mac Demarco – This Old Dog
„Boy, this could be your year“, singt Mac DeMarco auf seinem dritten Studioalbum. Was 2017 so besonders für den Musiker machte, erzählt das Album selbst.
Viel wird in This Old Dog über das Älterwerden gesungen: „My Old Man“ und „This Old Dog“, auch „Dreams From Yesterday“ erzählen von einer großen Veränderung seit Salad Days, DeMarcos Album aus 2014. Sein wildes Tourleben lässt der Kanadier hinter sich.
Nicht nur der „Birthday Blues“, wie er ihn nennt, hat ihn eingeholt, sondern auch gescheiterte Beziehungen aus seiner Vergangenheit. Diese verpackt er in mehreren Liedern- mal sind es romantische Beziehungen, wie in „One More Lovesong“ (ein Liebeslied, das beim Zuhören beinahe weh tut), mal sind es mehrere über seinen alkoholkranken Vater, der die Familie früh verließ.
DeMarco traut sich aber nicht nur an neue Themen heran, sondern versucht seinen leicht wiedererkennbaren Stil mit neuen Einflüssen zu bereichern- wie zum Beispiel bei seinem Lieblingslied des Albums „Dreams From Yesterday“, welches von Bossa-Nova inspiriert ist.
DeMarco bleibt 2017 immer noch als Multiinstrumentalist und Songwriter mit seinem einmaligen Musikstil relevant und wird Jahr für Jahr etwas reifer und weiser.
Boy, this could be your year.

Anspieltipps: „Still Beating“ & „On the Level“

Sampha – Process

Den Hyundai Mercury Prize hat Sampha Sisay mit seinem Debütalbum schon abgeräumt. Was in Zukunft noch für den gebürtigen Briten ansteht, der bereits mit Frank Ocean, Solange, Kanye und Drake zusammengearbeitet hat, dürfte seine Zuhörer gespannt halten. Wer ihn noch nicht gehört hat, sollte das spätestens jetzt tun, um ein neues Gesicht des Neo-Souls kennenzulernen.
Der Titel Process erklärt die Thematik seines Albums schon vor dem ersten Hören:
Sampha verarbeitet den Verlust seiner Mutter. In bewegenden Liedern, begleitet von Trommeln und Harfen, Herzschlägen und geschnappten Atemzügen und seinem präferierten Instrument, dem Klavier, schafft er es seine Emotionen widerzuspiegeln.
Lyrisch begeistert er mit eigenen Metaphern und bildlichen Szenen für Hilflosigkeit und Panik, aber auch simplere Balladen wie „(No One Knows Me) Like The Piano“ sind ebenso mitreißend. Was sein Album vielleicht so bemerkenswert macht ist nicht nur sein musikalisches Talent an verschiedenen Instrumenten, sondern seine sanfte Soul-Stimme, die ebendiese gewaltigen Emotionen besingen kann.

Anspieltipps: „Plastic 100°C“ & „Blood On Me“

Miguel – War & Leisure

Der charmante Pop-Prinz ist zurück. Miguels viertes Studioalbum strotzt mit seinen Single-Auskopplungen („Sky Walker“, „Told You So“ und „Pineapple Skies“) nur so vor Psychedelic Funk, der Popstar singt in „Caramelo Duro“ zusammen mit Kali Uchis auf Spanisch und rappt gelassen mit J.Cole und Salaam Remi in „Come Through And Chill“.
Als ob das nicht genug Abwechslung wäre, zieht der US-Amerikaner alle Register, die das Popgenre zu bieten hat:
Hinter den funkigen Beats, die zum Feiern anregen, versteckt der Künstler seine eigene politische Kritik. In seinen Musikvideos wird Popmusik mit Trump Protesten gemischt und Miguel tanzt vor gezündeten Atomraketen. Songs wie „Wolf“ oder „City Of Angels“ decken seine rockige Ader auf, inspiriert von Prince und Lenny Kravitz bietet er eine wildere Seite des grinsenden Künstlers.
Rundum bietet Miguel seinen Zuhörern das, was sie von ihm kennen und mögen, geht gleichzeitig jedoch einen Schritt weiter und begeistert mit einem Album, das Gegensätze bietet: Altes & Neues, War & Leisure.

Anspieltipps: „Sky Walker“ & „Told You So“


Alexander Rumpf

Lorde – Melodrama

Die Zeichen standen schlecht, als dieses Jahr die ersten Gerüchte zum neuen Lorde-Album auftauchten. Neue Songwriter, unsympathische Interviews, der Konsens- und Langeweileproduzent Jack Antonoff, eine brutal mit ihrem bisherigen Werk brechende Singleauskopplung – und dann doch Album des Jahres. Puh! Statt des jugendlichen Ennuis von Pure Heroine besingt Lorde nun ihren „first real break-up“ und schafft es, mit ihren abwechslungsreichen und lebendigen Lyrics abermals Leben in dieses vermeintlich abgegriffene Thema zu hauchen. Die 2013 noch heiß und innig geliebten Garage-Band-Beats vermisst man spätestens beim Klang gewordenen Synthieorgasmus „Hard Feelings“ nicht mehr: Um die 2:20min-Marke feuern Lorde und Antonoff Geräusche aus ihrem Keyboard, die wie aufeinander reibende Stahlplatten klingen und sich trotzdem für den schlimmsten Ohrwurm des Jahres verantwortlich zeigen.
Das Abschlussstück zu Melodrama, die Midtempo-Popnummer „Perfect Places“, dient als Zusammenfassung aller Emotionen, die man als weltgeschmerzte 19-jährige eben fühlt – allein die Interpretation des Refrains würde mich aber eine Seite kosten, weshalb ich hier zum Ende kommen will: vier Jahre, nachdem ich als dummer Teenager nachts mit meinem iPod unter der Bettdecke Pure Heroine gehört habe, sitze ich nun mit Melodrama in meinem WG-Zimmer und fühle mich abermals von Musik vollkommen verstanden.

Anspieltipps: „Hard Feelings/Loveless“ & „Perfect Places“

Leoniden – Leoniden

Wenn Leoniden Jesus ist, bin ich Petrus – mindestens zweimal habe ich das Album dieses Jahr schon verleugnet. Das erste Mal hier im Campusradio, das zweite Mal auf dem Weg zum Konzert im Ostpol, als mein guter Freund Eric mich fragte, ob ich das Album in zehn Jahren denn auch noch hören würde. „Denke nicht!“, war meine unüberlegte Antwort, und später am Abend, nach einem grandiosen Konzert, lief ich dann verschämt mit frisch gekaufter Platte nach Hause. Stimmt schon: Die Lyrics auf Leoniden sind größtenteils Bollocks, die Musik ist unverschämt catchy und erfüllt eigentlich nur einen Zweck, nämlich ihren Zuhörer gnadenlos zum Auf- und Abbewegen sämtlicher Körperteile zu verleiten. Wenn man die Scheibe auf dem Heimweg aus der Neuse aber zum x-ten Mal auf den Ohren hat, zu „Storm“ un-gekonnt un-lässig den Zeigefinger in der Luft kreisen lässt und sich dieses wohlige Glücksgefühl im Bauchbereich ausbreitet, dann sollte man sich das auch eingestehen. In einer Zeit, in der die Zukunft so nah an die Gegenwart gerückt ist, dass es ohnehin nicht lohnt, sich groß über die langfristige Haltbarkeit deutscher Indiebands Gedanken zu machen, hat mir Leoniden eine sehr gute Zeit mit sehr lieben Leuten beschert, und diese Portion Hedonismus gönn’ ich mir.

Anspieltipps: „Storm“ & „Nevermind“

Craig Finn – We All Want The Same Things

Die ersten Töne des dritten Soloalbums von Lifter-Puller-Frontmann Craig Finn sind rumpelig und atonal, die ersten Worte werden dem Hörer förmlich vor die Füße gespuckt. Was folgt ist eine lange Aneinanderreihung scharf gezeichneter Charaktere, die im Albumuniversum mal besser, mal schlechter mit ihren Problemen zurechtkommen. Vom nostalgisch sinnierenden Gangsterpärchen über zwei drogenabhängige Homosexuelle, denen der Arzt noch ein Jahr zu leben gibt, bis zur ausgebrannten Kellnerin, die sich an der Verzweiflung und am Weinkeller ihres abgebrannten Lovers bedient: So gut wie alle dieser Protagonisten versuchen ihr Leben mit Rauschmitteln zu bewältigen, aber Finns songschreiberisches Augenmerk liegt eher auf den unscheinbaren Reizen dazwischen, lauterer menschlicher Emotion wie Ekstase, Geborgenheit, Transzendenz, „a wild kind of sadness“. Die schmerzende Ehrlichkeit der Songs kombiniert mit ihrer folkig-bluesigen Instrumentierung machen diese Platte zu einem wundervollen Kleinod für stille Stunden.

Anspieltipps: „Tracking Shots“ & „Be Honest“


Ansgar Wagenknecht

Fjørt – Couleur

Man staunte nicht schlecht, als Fjørt im September mit einer Livesession ihr neues Album Couleur ankündigten, das am 17. November erschien – nur gut 22 Monate nach ihrem fantastischen zweiten Album Kontakt. Bereits die ersten Takte des drückenden „Südwärts“ prügeln dabei jeden noch so kleinen Gedanken an „übereilt“ oder „Schnellschuss“ aus dem Kopf. Das Trio baut die Posthardcore-Wände auf Couleur noch ein Stück dicker, was maßgeblich dem donnernden Basssound zu verdanken ist. Dazu krachende aber vielseitige Drums sowie mal brachiale, mal verschnörkelte Gitarrenriffs. Thematisch ist Couleur Fjørts bislang politischstes Werk, was am eindrucksvollsten mit den „neunzehndreiunddreißig Gründen“ aus „Raison“ bewiesen wird. Doch gehören auch persönliche Lieder wie „Magnifique“ zu den absoluten Highlights. Couleur klingt in jeder Sekunde nach den heißgeliebten Fjørt, zeigt aber durch kleine Experimente wie elektronische Sprenkler („Eden“), Sprechgesang („Bastion“) oder das ruhige Intro des abrundenden Schlussstücks „Karat“, dass die Band sich nicht auf bewährten Mitteln ausruht. Dieses Kunststück nicht mal zwei Jahre nach Kontakt zu vollbringen verdient größte Anerkennung. Chapeau!

Anspieltipps: „Magnifique“ & „Couleur“

Love A – Nichts ist neu

Der Albumtitel stimmt nur bezüglich der Sicht, mit der Love A auf die Welt blicken. Was den Klang betrifft, bietet ihr viertes Album einiges Unerwartetes. So ertönen statt dem typischen, getriebenen Gitarrengefrickel nun häufiger sphärische Schichten und ein waviger Groove. Das resultiert in den bisher poppigsten Songs von Love A („Sonderling“, „Verlieren“), da auch Bandkopf Jörkk Mechenbier oft glatter als zuvor singt. Umso ungestümer wüten dagegen Bretter wie „Treeps“ oder „Unkraut“, in denen dieser keift wie nie, sodass Nichts ist neu alles andere als weichgespült klingt. Auch auf diesem Album sind die Texte die große Stärke der Band. Treffender hat 2017 wohl keiner persönliches Scheitern und die elende Seite dieser Gesellschaft beschrieben – schon gar nicht mit solch bitterbösem Sarkasmus und der Prise Wahnsinn. Dummheit, Oberflächlichkeit und Ignoranz überall. Natürlich möchte man damit eigentlich nichts zu tun haben und trotzdem spricht Nichts ist neu einem so oft aus dem Herzen.

Anspieltipps: „Treeps“ & „Nachbarn II“

Gisbert zu Knyphausen – Das Licht dieser Welt

Sieben Jahre nach seinem letzten Soloalbum setzt Das Licht dieser Welt im Songwriting den Weg fort, den Knyphausen 2012 mit Kid Kopphausen eingeschlagen hat: von der Ich-Perspektive in die Beobachterrolle eines Alltags mit all seinen Ausprägungen. Euphorisch wird es dabei wie erwartet nicht. Trotzdem schwingt im Gesamteindruck der Platte ein latenter Lebensmut und eine Zuversicht mit, die vor allem seinem letzten Werk Hurra! Hurra! So nicht. fast völlig fehlten. Statt von Melancholie oder gar Wut sind die traurigen Momente dieses Mal geprägt von der Tragik des besungenen Lebens. Neben dem unerwartet friedlichen Blick auf die Welt überrascht auch der Klang der Platte. Der beinah spirituelle Opener „Niemand“ taucht die ersten sieben Lieder in einen warmen, einnehmenden Sound samt äußerst vielseitiger Instrumentierung. Die letzten fünf Stücke entfliehen diesem durch ihren eher experimentellen Charakter. Darunter sind zwei englischsprachige Stücke, entstanden auf einer Reise in den Iran, und der instrumentale Schlusstrack „Carla Bruno“. Besonders wird es bei „Etwas Besseres als den Tod finden wir überall“. So stammt das Lied nicht nur aus der Feder des 2012 verstorbenen Nils Koppruch, sondern ist dieser am Ende auch aus dem Off zu hören.

Anspieltipps: „Unter dem hellblauem Himmel“ & „Niemand“


Antal Schooltink

XXXTentacion – 17

Nachdem ihm mit dem 2016 releaseten Song „Look At Me!“ der Durchbruch gelungen war, hat XXXTentacion, kurz X, am 25. August 2017 sein Debütalbum 17 veröffentlicht.
Im Gegensatz zu seinen vorherigen Songs, die meist auf aggressiv gerappten Vocals unterlegt mit elektronischen Beats beruhten, ist sein neues Album ruhig gehalten und es geht eher in die Richtung R´n´B gepaart mit Grunge- und Rap-Elementen. So kommt es wenig überraschend, dass unter anderem Nirvana als Inspiration angegeben wurde, was man besonders auf dem Song „Save Me“ hört.
Darüber hinaus gibt es einige Elemente die X beibehalten hat, denn wie schon bei vorherigen Veröffentlichungen handelt es sich um eine Lo-Fi-Produktion. Textlich ist das Album sehr düster gehalten und behandelt Themen wie Suizid, Depression und Herzschmerz.
Mit nur 22:01 Minuten Laufzeit handelt es sich um ein sehr kurzes Album, das sich unfertig anfühlt. Ob geplant oder nicht kann diese Unvollständigkeit als Stilmittel gesehen werden und trägt zum Verständnis der Situation bei, in der sich das lyrische Ich befindet.
Nachtrag: Erst nachdem ich den Text geschrieben habe, habe ich gesehen, dass XXXTentacion wegen mehrerer Verbrechen, u.a. Gewalt gegen eine schwangere Frau, im Gefängnis sitzt.
Mit diesem Review unterstütze ich nicht den Künstler und sein Verhalten, sondern lediglich sein Album 17.
Hier könnt ihr Genaueres nachlesen.

Anspieltipps: „Jocelyn Flores“ & „Everybody Dies In Their Nightmares“

yaeji – EP2

yaeji ist eine sowohl in New York als auch in Seoul ansässige Künstlerin, die Leuten in der Elektronik- und House-Szene spätestens seit der Veröffentlichung ihrer EP yaeji im März 2017 kein Fremdwort mehr ist.
Am 7. November erschien dann ihre zweite EP, EP2, die sich deutlich ausgereifter als die erste Veröffentlichung anhört. Dies erkennt man unter anderem an musikalischen Veränderungen, so standen bei yaeji die dominanten Texte im Vordergrund, wurden aber auf EP2 von kräftigen Beats mit drückenden Bassschlägen ersetzt. Die Vocals, sowohl auf Englisch als auch Koreanisch, verschwimmen hier eher mit dem Beat als ihn zu überschatten. Yaeji spielt mit den beiden Sprachen und ändert sie oft mehrmals im Song. Besonders die melodisch und ästhetisch sehr passende koreanische Sprache wird oft mehr als Stilmittel genutzt als um Inhalte zu vermitteln.
So sagt yaeji auf Genius über den Refrain des Songs „drink i’m sippin’ on“: „I was singing, “That’s not it,” in Korean. I realized phonetically it sounds beautiful.“

Anspieltipps: „drink i’m sippin on“

Daniel Caesar – Freudian

Am 25. August veröffentlichte der kanadische R´n´B-Singer Songwriter Daniel Caesar sein Debütalbum Freudian, das starke Einflüsse von klassischem Gospel sowie Neosoul enthält.
Besonders gut kann man die Einflüsse der Gospelmusik in den Songs „Hold me Down“ und „We Find Love“ sehen, die beide Samples von Gospelklassikern enthalten.
Die ruhig gehaltenen Instrumentals werden kombiniert mit der samtenen Stimme Caesars, die von einer klaren Kopfstimme unterstützt wird. Passend dazu handeln die meisten Songs von Liebe, wie zum Beispiel „Get You“ oder „Best Part“, oder dem Ende einer Beziehung wie auf „Neu Roses“ oder „Loose“.
Obwohl er vorherige Projekte in der Regel alleine umgesetzt hat, erkennt man mit einem Blick auf die Tracklist, dass Freudian viele weibliche Features enthält. Diese frischen das Album auf, indem sie Caesars R´n´B-Musik durch ihr eigenen Stile bereichern. Auch textlich haben die Künstlerinnen eine wichtige Rolle, da sie oft das Gegenstück in den Beziehungen spielen.


Anton Schroeder

King Krule – The OOZ

2013, Hamburg: Ein junger Anton Schroeder scrollt mit großen Augen durch das Line-Up des Dockville Festivals. Er wird sowieso nicht hingehen (das ist ihm unterbewusst klar), doch schauen kann ja wohl nicht schaden. Viele Namen stehen da, wenige sind dem jungen Protagonisten dieser Reise in die Vergangenheit ein Begriff, auch wenn das heute anders ist. Bandnamen, Einzelkünstler-Namen, DJ-Namen – doch plötzlich sieht Anton Schroeder einen Namen, eher gesagt ein Bild, welches seine sowieso schon großen Augen fast zum Überquellen bringt. Anton Schroeder sieht sich gewissermaßen selbst auf dem Bild – ein dünner, bleicher Rotschopf ist da abgebildet, darunter prangen die Buchstaben KING KRULE. Sofort ist die Neugierde in unserem kleinen Anton geweckt, sofort muss er mehr über diesen mysteriösen Typen herausfinden. Anton Schroeder klickt auf das kleine Piktogramm und liest. 18 Jahre ist er alt, noch dazu aus England. Die Vorfreude wächst ins Unermessliche und gipfelt Am Ende der Beschreibung endlich im verlinkten YouTube-Video: „Rock Bottom“. Anton Schroeder wird es in den nächsten Tagen hören, bis ihm die Ohren bluten. Anton Schroeder wird beschließen, King Krule zu mögen.

2017, Dresden: Anton Schroeder schreibt komischerweise immernoch in der 3. Person über sich selbst. Auf seinem Schoß liegt The OOZ, die neue Platte von King Krule, dieses Jahr hat er den selbsternannten King sogar drei Mal gesehen (sogar auf dem Dockville-Festival). Nach „Rock Bottom“ kam das Debüt-Album 6 Feet Beneath The Moon, nun kam The OOZ. King Krule gehört inzwischen zu den Lieblingskünstlern des nun „erwachsenen“ und in Dresden lebenden Anton Schroeder.
Tausende Kilometer entfernt ist auch King Krule selbst gereift. Unter diversen Namen hat er in den letzten Jahren Musik veröffentlicht, sein Sound hat sich gewandelt. Der schon früher dagewesene Jazz-Einschlag seiner Musik hat sich auf großen Teilen seines neuen Albums so weit in den Vordergrund gedrängt, dass man sich fast schon wundert, dass er mit seiner Musik bei jungen Menschen so viel Andrang findet. Aber darüber sollte man sich eigentlich eher freuen.

Anspieltipps: „Dum Surfer“ & „(A Slide In) New Drugs“

Aldous Harding – Party

Obacht, junger Leser: Nicht in allem, auf dem “Party” steht, ist auch Party drin. Du solltest dieses Album also nicht Freitag Abend zum Vortrinken bei deinen EDM-Freunden, die nach vier Wodka Energy schon total heiß aufs Kraftwerk Mitte sind, mitnehmen und erwarten, dass dann „richtig Ibiza-Stimmung“ eintrifft und alle „voll laser abgehen“. In Wahrheit hat Aldous Hardings zweites Album in etwa so wenig mit einer Party zu tun wie, sagen wir mal, das Vorabendprogramm bei Sat. 1 (bis auf den Song „Party“, der enthält zumindest ein paar Mal das Wort). Party ist ein Album der ruhigen und zarten Töne. Klavier kommt zum Einsatz, die obligatorische Singer-Songwriter Gitarre (meist natürlich gezupft – melancholischer!), ein schüchternes Schlagzeug, allem voran jedoch Hardings Stimme. Die ist mal zart, mal rau, mal quakig, mal leise, mal laut, immer sehr besonders und einfach gut. Mit nur neun Liedern sollte Party auch für jeden noch so ADHS-geschädigten Studenten im Prüfungsstress durchzuhalten sein. Außerhalb der Party.

Anspieltipps: „Blend“ & „Party“

Mount Eerie – A Crow Looked At Me

Kurz zur Erklärung: Mount Eeries Frau Geneviève verstarb im Juli 2016 an Krebs – Mount Eerie beschloss danach eigentlich, die Musiker-Karriere an den Nagel zu hängen, änderte dann (für die Welt: zum Glück) jedoch seine Meinung und nahm A Crow Looked At Me im selben Raum auf, in dem seine Frau starb.
Auf Mount Eeries Bandcamp-Seite heißt es: “(…) on July 9th 2016 she died at home and I belonged to nobody anymore. My internal moments felt like public property. The idea that I could have a self or personal preferences or songs eroded down into an absurd old idea leftover from a more self-indulgent time before I was a hospital-driver, a caregiver, a child-raiser, a griever. I am open now, and these songs poured out quickly in the fall, watching the days grey over and watching the neighbors across the alley tear down and rebuild their house. I make these songs and put them out into the world just to multiply my voice saying that I love her. I want it known.“ Mehr möchte ich gar nicht hinzufügen. Wer interessiert ist soll es sich anhören, wer nicht eben nicht. Für mich ist A Crow Looked At Me ganz klar das beste Album des Jahres.

Arthur Witte

Haiyti & Die Achse – Jango EP

Haiyti ist eine Rapperin aus Hamburg, hat in diesem Jahr zwei EPs und ein Mixtape veröffentlicht und ist der Messias Deutschraps. Während die ersten beiden Aussagen wenig kontrovers sind, herrscht bei letztgenanntem FAKT möglicherweise noch Diskussionsbedarf. Nicht nur, dass das Wort „Messias“ aufgrund des Fehlens einer passenden Form im weiblichen Genus eine holprige Formulierung ist: auch inhaltlich gibt es sicherlich Menschen (nennen wir sie Banausen), die vehement widersprechen würden.
Dies liegt vor allem Haiytis unkonventioneller Stimmeinsatz: die Mischung aus Rappen, Schreien und Schluchzen (Hater würden “Quietschen” hinzufügen), die zu allem Überfluss noch durch Auto-Tune verfremdet wird, ist zwar gerade eine der größten Qualitäten der Rapperin, man muss sich aber erst mal dran gewöhnen. Dabei gehört die Jango EP noch zu den zugänglicheren Projekten Haiytis, auch wegen den über jeden Zweifel erhabenen Beats des Produzenten-Duos Die Achse, welches sich bereits mit Produktionen für Künstler wie Haftbefehl und Xatar einen Namen gemacht hat. Auf der Jango EP liefert Die Achse mit teils orientalisch anmutenden und stets ballernden Beats den passenden Unterbau für Haiytis Texte, der modern anmutet, aber nie in Gefahr gerät, Trapklischees zu bedienen. Thematisch handeln die Texte zum einen vom aufreibenden Nachtleben (Party, Drogen, etc.) auf “Tonight”, beleuchten aber auch Alkoholprobleme und Einsamkeit („Angst“). Dies alles findet auf nur 15 Minuten Spielzeit statt und hinterlässt einen solchen Eindruck, dass der Jango EP völlig zu Recht ein Platz zwischen den Alben den Jahres gebührt. Big Up!

Anspieltipps: „Angst“ & „Single“

Brockhampton– Saturation

Brockhampton sind eine Rap-Crew, bezeichnen sich selbst aber als Boyband, denn anscheinend ist es gerade angesagt, altbekannten Konzepten andere Namen aufzudrücken, man denke nur an Drakes „Playlist“-Album.
Solche Sperenzchen haben Brockhampton eigentlich gar nicht nötig, denn die Crew um den Rapper Kevin Abstract hat mit ihrem Debütalbum Saturation ein echtes Meisterwerk geschaffen: ein Album, auf welchem harte Rap-Tracks neben ruhigen Liebesliedern mit Gitarrengeklimper stehen und das trotzdem klingt wie aus einem Guss. Ein Album, das einen immer wieder überrascht, wenn man es ganz ohne Erwartung hört. Daher will ich gar nicht weiter spoilern. Hört euch das einfach an!

Anspieltipps: „HEAT“ & „FACE“

Vince Staples – Big Fish Theory

Vor nicht allzu langer Zeit saß ich in der Straßenbahn und dachte mir nichts Böses, als eine Gruppe von Kindern, wohl kaum älter als zwölf, meine Fahrt im eisernen Großraumgefährt störte. Die Clique vergnügte sich damit, über klägliche Smartphone-Lautsprecher Lieder der Rap-Crew SXTN tönen zu lassen und ließ es sich auch nicht nehmen, die nicht komplett altersgerechten Texte lauthals mitzusingen. Dies führte bei mitreisenden Rentnern zu Entsetzen und bei mir zur Erkenntnis, dass EDM-getränkte Beats zwar sicherlich zur Popularität von Rapmusik unter Minderjährigen beitragen, gleichzeitig aber auch oft sehr plump anmuten.
Dass elektronische Hip-Hop-Instrumentals auch sehr viel stilvoller klingen können, beweist das Album Big Fish Theory von Vince Staples. Dieser berichtet darauf von seiner Vergangenheit als Gang-Mitglied und seinem Leben als recht erfolgreicher Rapper und wird dabei unter anderem von Damon Albarn und Kendrick Lamar unterstützt.
Doch der wahre Star ist der Sound von Big Fish Theory: eisiges Windrauschen auf dem ersten Track leitet ein Album ein, das über weite Strecken sehr kalt wirkt. Ein Album, auf dem sich auch eine vermeintlich hedonistische Hymne wie “Party People” mit treibendem Beat als groteskes Vehikel für Vince Staples‘ Klagen über Depression entpuppt. Das sich, auch wenn die Bässe völlig übersteuern und von Hi-Hats wie Eisnadeln zerhackt werden (wie auf “Yeah Right”), eben nie plump anhört, schließlich wurde der Track von Flume produziert und der kann das halt. Big Fish Theory sollte man auf keinen Fall verpassen!

Anspieltipps: „Party People“ & „Yeah Right“


Céline Marten

Alexandra Savior – Belladonna of Sadness

Die gerade mal einundzwanzigjährige Newcomerin hat mit Belladonna of Sadness eines der schönsten, nostalgischsten und zugleich hypnotisierendsten Debüts des Jahres 2017 hingelegt. Gekonnt setzt sie ihre unverwechselbare sehnsüchtig-sinnliche Stimme in Szene. Dabei weiß sie diese auf unterschiedlichste Art und Weise einzusetzen. Mal klingt sie gelangweilt arrogant und divenhaft (alles im positiven Sinne gemeint), dann impulsiv und stark, manchmal wiederum verängstlicht und schüchtern. Langweilig wird einem beim Zuhören nie und nach den insgesamt elf Stücken weiß man nicht so recht, ob man sich in eine alte Bar in den Sechzigerjahren zurück katapultiert fühlt oder in ein schaurig schönes Märchen. Tatsächlich ist der Titel des Albums auf einen japanischen Anime-Film zurückzuführen, in dem ein Bauernmädchen der Hexerei angeklagt und sexueller Gewalt ausgesetzt wird. So düster wie die Thematik des Filmes klingen auch einige der Lieder Alexandra Saviors.
Ganz deutlich zu spüren ist der Einfluss Alex Turners (Arctic Monkeys), der die Platte mitproduziert und an dem ein oder anderen Song mitgeschrieben hat. Aus textlicher sowie musikalischer Hinsicht lassen sich einige Parallelen zu den Arctic Monkeys oder Last Shaddow Puppets kaum ignorieren. Manch einer wird sie auch mit Lana del Rey vergleichen wollen. Dennoch außer Frage stehend sind das Talent der jungen Sängerin und die Individualität dieses Albums.

Anspieltipps: „Mirage“ & „M.T.M.E.“

Washed Out – Mister Mellow

„I´ve been daydreaming my entire life“: So lautet das Motto des Trailervideos zu Ernest Greenes drittem Schlafzimmeralbum (Schlafzimmer, da das sein Musikstudio ist). Treffender kann man das Ganze auch nicht beschreiben. Greene weiß unter seinem Pseudonym Washed Out gekonnt jegliche Genregrenzen zu verwischen (passend zu seinem Künstlernamen) und seine elektronisch verzerrte Stimme darauf zu setzen. Das Ergebnis: eine Art musikalische Collage, bestehend aus Electronica, Synthiepop, Psychedelic Rock, Dream Pop, LoFi, HipHop, Freejazz und Ambient House. Klingt zunächst nach einer wilden Mischung, aber genau das ist es, was den einzigartigen sogenannten Chillwave Sound ausmacht und so besonders lässig macht. Mister Mellow ist durch und durch ein experimentelles und sehr künstlerisches Album. Greene bediente sich einer Fülle an Beats, anonymen Voicesamples aus Youtube und anderen Versatzstücken aus dem HipHop und Downbeat. Jedem Song ist ein Video zuzuschreiben bestehend aus Reklameschnipseln, kalifornischer Lässigkeit und Drogenthematik. Für diese filmische Umsetzung arbeitete der Produzent mit verschiedensten renommierten Regisseuren und Artdirectors aus aller Welt zusammen.

Anspieltipps: „Hard To Say Goodbye“ & „Instant Calm“

Temples – Volcano

Die britische Indierock-Band erinnert auf ihrem zweiten Album ein wenig an Sgt. Pepper´s Lonely Hearts Club Band vermischt mit modernem Tame-Impala-Klang und Background-Gesängen von Queen. Synthie Pop allerfeinster Art könnte man das nennen. Der Sänger James Bagshaw baumelt in schwindelerregender Höhe über dem astreinen Zusammenspiel der anderen Bandmitglieder. Beim Zuhören der Platte kann man sich nicht anders helfen, als in eine Sechzigerjahre psychedelische Wunderwelt einzutauchen. Beinahe barock könnte man Volcano nennen, da das Album von Polyphonie, Chromatik und Pomp nur so trotzt. Was man der ganzen Sache allerdings vorwerfen könnte, ist der durchgängig fast schon zu naive Sound. An manchen Stellen wünscht man sich mehr Tiefgründigkeit. Nichtsdestotrotz ist Volcano sehr empfehlenswert und nach den knapp 50 Minuten wird mit Sicherheit keiner ohne ein Lächeln auf dem Gesicht die hymnische und zugleich magische Klangwelt der Temples verlassen.

Anspieltipps: „Certainty“ & „Born Into The Sunset“


Clara Wild

SOHN – Rennen
Düster und treibend eröffnen sich die abstrakten Klangwelten SOHNs und machen damit dem Titel Rennen alle Ehre. Nach seinem Debütalbum Tremors und langer Zeit auf Tour, ohne festen Bezugspunkt oder stetigem Wohnort, entlädt sich diese aufgebaute Unruhe in einmonatiger Produktionszeit zu seinem zweiten Album.
Dem Hörer geht es dabei wie dem Produzenten, die elektronischen Tracks lassen kein vollkommenes Stillstehen zu. Man fühlt sich zurück gelassen zwischen wabernden Samples und ziehenden Beats, ohne dass sich beim Hören gegenständliche Assoziationen realisieren. Besonders „Hard Liquor“ und „Conrad“ stoßen einen direkt zu Beginn der LP in eine pulsierende und energiegeladene Leere. Synthesizer und Autotune verfremden die Stimme Christopher Taylors zu verzerrten Tonspuren, bis sie mit den Melodien verschmilzt und Worte nebensächlich werden. Auch wenn diese durchaus Sinn in sich tragen und uns oftmals klagend, im Titeltrack „Rennen“ beinahe flehend, an die Fehler unserer Welt erinnern.
Über konkreten verbalen Ausdrücken steht hier aber klar die melodische Atmosphäre und innere Unruhe, die einen durch jeden der zehn Songs begleitet.

Anspieltipps: „Hard Liquor“ & „Rennen“

Leslie Clio – Purple

Lügen, Vertrauen, das Ende einer gemeinsamen Beziehung oder zumindest einer gemeinsamen Zeit. Die Verarbeitung dieses einschneidenden Ereignisses. Ein Klassiker im Themenpool aller Musiker. Auch in diesem Album inhaltlich nichts Neues. Warum es also zu einem Album des Jahres krönen?
Purple präsentiert sich anders. Erwachsener, gefestigter und reflektierter als das übliche Herzschmerz Gesülze. Ohne in sentimentale Klagelieder zu verfallen, teilweise schon fast mit beunruhigender Abgeklärtheit. Kraftvolle Vocals lassen uns an der Entwicklung der Hauptfigur teilhaben. Natürlich spürt man da das Gefühl des Vermissens und die ein oder andere Anklage, aber auch Erkenntnis und Gelassenheit.
Genau diese Ruhe und zurückgelehnte Melancholie, zusammen mit der vielschichtig aufgebauten Instrumentalisierung strahlen ein unheimliches Selbstbewusstsein aus. Dies lässt sich nicht nur auf die Verarbeitung des thematischen Schwerpunktes, sondern vor allem auch auf die Neugier hinsichtlich musikalischer Grenzen, beziehen. Zwischen oberflächlich recht einfach erscheinenden Pop Songs, theatralischen Synth Einsätzen, schwebend zarten Balladen und elektronisch unterlegten Rap-Zeilen bleibt das Album angenehm unvorhersehbar.

Anspieltipps: „And I’m Leaving“ & „Riot“

!!! (Chk Chk Chk) – Shake The Shudder

Der letzte Festival Tag auf dem Primavera in Barcelona, der vorletzte Act, gleich heißt es wieder am Strand den Sonnenaufgang beobachten und um 6 Uhr morgens vielleicht erstmal schwimmen zu gehen. Wach werden und wieder in der Realität anzukommen. Noch aber ist die Nacht nicht vorüber, noch wird selbst nach 12 Stunden getanzt, noch verschwimmen Lichter, Musik und Menschen und noch hat man nicht mehr im Kopf als die nächsten Minuten voller Rhythmus.
„Dancing Is the Best Revenge“ ist Song und Motto des siebten Albums der New Yorker Dance-Punk Gruppe. Shake the Shudder ist wohl weniger Punk als vielmehr Dance, aber unglaublich viel grooviger Funk. Die Beats bewegen sich zwischen elektronischem Minimalismus und rauschendem Disco-Revival. Ergänzt werden sie hervorragend durch die variablen Vocals der zahlreichen Features sowie die stimmliche Bandbreite des Frontmannes Nic Offer.
Stillstehen ist auch hier nicht möglich. Wenn es sich auch eher in einem extensiven Bewegungsdrang (anders als durch ein inneres Gefühl der Unruhe, wie bei SOHNs atmosphärischer Platte) realisiert. Selbst bei Bewegungslegasthenikern. Gut, dass es von meinen ausdruckstarken Bewegungen in Barcelona keine Videobeweise gibt. Obwohl ich alle Sorge darum beim nächsten Hören des Albums wahrscheinlich eh wieder ausgeblendet hätte.

Anspieltipps: „Dancing Is the Best Revenge“ & „The One 2“


Lara Bühler

Burkini Beach – Supersadness Intl.

Wo Supersadness draufsteht, ist bei Rudi Maier, alias Burkini Beach, auch zweifellos Supersadness drin. Melodisch und melancholisch kommen die zehn Tracks des Debüts daher, mit dem der ehemalige Sänger und Gitarrist der Indie-Band The Dope seine Solo-Karriere startet. Der musikalische Perfektionismus von Maier zieht sich dabei als roter Faden durch die Songs, aufgenommen in einer kleinen Berliner Wohnung: Die Instrumentalisierung ist ruhig und gefühlvoll, doch rutscht niemals in Pathos und Sentimentalität ab, die Texte tragisch, doch triefend mit schwarzem Humor, die Geschichten, die Maier erzählt, sind detailreich, doch niemals kitschig. Vom Ertränken im Spülbecken in „Kitchen Sink“ oder Malheure, die einem beim Übertreten der französischen Grenze passieren können, in „Luxembourg“, gibt Maier den tragischen Helden seiner Songs Tiefgang und schafft eine zweite Ebenen unter dem melancholischen Deckmantel – Augenzwinkern und Schmunzeln inklusive.

Anspieltipps: „Luxembourg“ & „Kitchen Sink“

Lilly Among Clouds – Aerial Perspective

Das doch eher unscheinbare Cover von Aerial Perspective lässt mitnichten vermuten, welche Stimmgewalt sich auf der Platte befindet: Elisabeth Brüchner aus Würzburg kann es mit ihrem Album mit Pop-Ikonen wie Florence and The Machine, Lorde oder Lana del Rey durchaus aufnehmen. Gefühl ist dabei natürlich inklusive – klingt Brüchner auf den 11 Songs doch zart, hart, leise, laut, vorwurfsvoll und demütig. Auch die Instrumentalisierung lässt keine Wünsche unberücksichtigt: Klavier, Streicher und der ein oder andere Synthie-Part machen Aerial Perspective abwechslungsreich und unterstreichen die Vielseitigkeit des Gesangs. Man merkt, dass die Songs gut durchdacht sind, das lange an deren Perfektion gefeilt wurde. Dabei kann man selbstverständlich kritisieren, dass Brüchners Debüt der unverwechselbare Charakter fehlen mag – doch erscheint dies vor dem Hintergrund dessen, dass Aerial Perspective ein Debüt ist, ganz und gar nicht schwierig. In den nächsten Alben wird die eigene Unterschrift dann geübt!

Anspieltipps: „Listen To Your Mama“ & „The Only One“

Gisbert zu Knyphausen – Das Licht dieser Welt

Nach einer langen Pause meldet sich Gisbert zu Knyphausen mit einem neuen Album wieder zurück – und sorgt damit eindeutig für die beste deutschsprachige Platte des Jahres. In Das Licht dieser Welt verarbeitet Knyphausen den Tod seines Freundes und Bandkollegen Nils Koppruch, dessen Stimme es im Song „Etwas Besseres als den Tod Finden Wir Überall“ noch ein letztes Mal in einer Neuveröffentlichung zu hören gibt. Gewohnt emotional präsentiert sich Knyphausen, wenn auch musikalisch abwechslungsreicher als in seinen Vorgängern: Bläser und Keyboard finden ihren Platz in den zwölf Songs, die Gitarre rückt in den Hintergrund. Erstmals wechselt Knyphausen auch die Perspektive seiner gesungenen Erzählungen: Während er in seinen vergangen Alben meist noch aus der Ich-Perspektive sang, schlüpft er nun in andere Rollen, tut dies jedoch nicht minder poetisch. Eine entscheidende Neuerung ist außerdem, dass sich auch zwei englische Titel auf der Platte eingeschlichen haben. Was zu Beginn ungewohnt scheint, funktioniert doch erstaunlich gut, ist man sonst nur deutsche Poesie von Knyphausen gewohnt.

Anspieltipps: „Unter dem Hellblauen Himmel“ & „Teheran Smiles“


Georg Winzer

Käptn Peng & die Tentakel von Delphi – Das nullte Kapitel

Käptn Peng und seine Tentakel haben uns dieses Jahr in Form ihres zweiten Studioalbums Das nullte Kapitel ein weiteres Mal auf ihr Boot zur Erkundungsfahrt der sieben Wortmeere eingeladen und ich bin ihr gefolgt. Alles begann vor einigen Jahren, als sich Käptn Peng alias Robert Gwisdek mit seinem ersten Album ein ganz neues Genre im deutschen Hip-Hop erschaffen hat, welches man als Philosophen-Rap bezeichnen könnte. Themen wie Waffen, Drogen oder Bitches sucht man in seinen Texten vergeblich und einige, eventuell etwas eindimensionale Rap-Fans werden sich wohl fragen „Wo ist denn jetzt der Diss?“. Der Kätptn rappt lieber über Tiere, Pflanzen und Geisteszustände, wobei bei seinem neuen Album auch Gesellschaftskritik und Alltagsthemen eine große Rolle spielen. Aber auch der Lovesong „Tango im Treibsand“ hat es auf das Album geschafft, welchen ich zu einem der kreativsten der letzten Jahre zähle. Anstatt von basslastigen Beats wird er von seiner vierköpfigen Band begleitet, welche auf teilweise selbstgebauten Instrumenten perfekt mit dem Rapper harmonieren und grooven wie eh und je. Im Großen und Ganzen ein tolles, abwechslungsreiches Album mit einer beeindruckenden Wortakrobatik, welche mich auf meinen Reisen dieses Jahr immer wieder in ihren Bann ziehen konnte.

Anspieltipps: „Im Labyrinth“ & „Tango im Treibsand“

Faber – Sei ein Faber im Wind

Dass deutsche Popmusik nicht immer niedrigschwellig und für jedermann leicht zugängig sein muss, beweist der junge Schweizer Julian Pollina alias Faber sehr eindrucksvoll mit seinem Debütalbum Sei ein Faber im Wind. Wer Fabers Texte nicht kennt, wird anfangs denken, er sei ein ekelhafter Macho mit einem hinterwäldlerischen Frauenbild. So scheint das Wort „Nutte“ für ihn auch durchaus lyrisches Potential zu haben. Doch wer genauer hinhört erkennt, dass Faber großen Spaß am Rollenspiel hat und mit viel Ironie tief in kaputte männliche Egos abtaucht, dorthin wo Stolz, Frust und Aggressionen ein Schattendasein fristen. Gerne lässt er sein lyrisches Ich auch fürs Vaterland demonstrieren, was ihm sogar schon Nazi–Vorwürfe eingebracht hat. Zu Unrecht natürlich. Musikalisch wird das ganze sehr abwechslungsreich und energiegeladen von seiner Band begleitet, wobei die Posaune deutlich im Vordergrund steht. Dabei entsteht etwas, was man Chanson-Pop nennen könnte, mit interessanten Einflüssen wie Polka, Salsa oder Balkanmusik. Eine experimentelle Mischung, fernab der üblichen Wohlfühlthemen – für mich eine der deutschsprachigen Platten dieses Jahr, die man unbedingt gehört haben sollte.

Anspieltipps: „Alles Gute“ & „Wer nicht schwimmen kann der taucht”

RIN – EROS

Der ganz und gar nicht unscheinbare Rapper RIN aus dem beschaulichen Bietigheim-Bissingen bei Stuttgart war 2017 wohl einer der gehyptesten Rapper in der deutschen Rap-Szene. Sein Debütalbum EROS hat polarisiert und sorgte auf der einen Seite für irritiertes Kopfschütteln, auf der anderen Seite für spektakulär ausrastendes Publikum bei Festivals und Konzerten. Auch ich konnte mich nicht gegen die Catchyness des Interpreten wehren und habe immer und immer wieder reingehört. Seine Texte zeichnen sich nicht grade durch besonders viel Inhalt aus. Fashion-Referenzen, Gejammer über manische Liebe und vor allem Kippen sind seine Lieblingsthemen, welche er mit stumpfen aber verdammt witzigen Ad-lips schmückt. Dies trifft wiederum auf die Beats von seinem beachtlichen Produzenten-Team, allen voran seine Wegbegleiter Lex Lugner und Minhtendo. Diese haben einen unfassbar guten Job gemacht und schaffen es durch aktuelle 808-Bass-Gewitter, Synthie-Flächen und simplen Melodien aus Marimba oder 80s Synthesizer in Kombination mit RINs sanfter, durch Autotune verzerrter Stimme das zu kreieren, was ein erfolgreiches Rap-Album dieser Tage auszumachen scheint – Vibe. Ob das alleine für ein gutes Album ausreicht ist natürlich streitbar, doch ich bin mir sicher, wer sich auf seine Songs einlässt wird sie nicht mehr so schnell aus dem Kopf bekommen.

Anspieltipps: „Blackout“ & „Gamma“


Jakob Müller

BROCKHAMPTON – SATURATION II
SATURATION II von der Boyband BROCKHAMPTON (ich will euch nicht anschreien, das wird so geschrieben) erfrischte mich wie kein Hip-Hop-Album seit langem. Die Abwechslung, die die sechs Rapper am Mikrofon bieten, gleicht aufgrund deren total verschiedener Wesen und Stile einer Gehörgang- und Seelenmassage. Gepaart mit wunderbar reizvollen Hooks, geschmeidiger, kreativer und mannigfaltiger Produktion und authentisch rauer Attitüde entstand bei mir ein bleibender Eindruck besonderer Gefühle, die ihre Daseinsberechtigung nicht anzweifeln. Zwei Wochen habe ich kaum Anderes gehört.
Wenn das Album läuft, formt sich mein Gehirn zu einem „JA, so will ich die Welt hören!“. Vielleicht trägt auch die Geschichte der Band zu meiner Sympathie bei: Dass sich 15 Anfang 20-Jährige über ein Kanye-West-Forum im Internet finden, zusammen ein Haus in Californien beziehen um gemeinsamen Sound zu machen, lässt mich nicht ganz kalt. Ich würde das für eine Casting-Show-Geschichte halten, wäre die Energie der Jungs nicht so mitreißend und das Resultat nicht so verdammt fresh. Mit Selbstverständlichkeit transportieren sie ihre Interpretation des Siegels der Realness im Hip-Hop, denn jeder Einzelne lebt sein Wesen aus und überspringt die Angst vor Verurteilung und Ausgrenzung.

Anspieltipps: „JELLO“ & „TOKYO“

Retrogott – Hardcore

Das Zweite meiner Alben des Jahres 2017 ist: …von 2013. Doch erst in diesem Jahr erblickten die 15 Tracks über einen kostenlosen Download das Licht der Welt, was wohl eine recht spontane Entscheidung des MCs, DJs und Samplekünstlers war. Das schien er bereits zu ahnen, als er gleich zu Beginn des Albums rappt: „Ich brachte den Müll raus/ und dann mein Album“.
Hardcore ist wie eine einfach gebaute Zeitmaschine. Auf der Reise durch den Kosmos des Retrogotts ziehen LPs und EPs mit verschiedenen MCs und Produzenten vorbei, seine Strophen werden langsam weniger politisch, einfacher strukturiert und in sich thematisch gestreuter, bis man im Jahr 2013 angekommen ist. In diesem Jahr kam auch das Album „Fresh und Umbenannt“ raus und ich entdeckte Huss und Hodn – ab diesem Zeitpunkt Retrogott und Hulk Hodn – erstmals.
Die Tracks von Hardcore behandeln Themen und größere Metaphern, wie es für den MC bis dahin untypisch war. Gewohnt funky zeigt sich die musikalische Sampleuntermalung und das Kennerohr bildet sich ein, dennoch die diffuse Handschrift des Wortjongleurs am Drumcomputer zu erkennen.
„Erzähl den Leuten vom Leben auf den Straßen, doch vergiss nicht Frisbee im Park und Seifenblasen“, reimt Retrogott im Track Acht und zeigt die Lächerlichkeit vieler Rapper und deren Texte. (Und: Wenn ich diesen Beat höre, ist die Welt in Ordnung.)
Mit dem weit gefächerten, schlauen und lustigen Inhalt seiner Raps ist er für mich zu einer Art geistigem Anhaltspunkt geworden. Daher bringt auch Hardcore in mir ein Freudegefühl hoch, das sonst kein Rapper erzeugen kann. Gefüllt mit Wortspielen und sichtbar gemachten Offensichtlichkeiten, was als angenehme Abwechslung zwischen den Polen der vermeintlich hohen Erkenntnis und gar keiner Erkenntnis schwebt, fühle ich mich beim Hören dieses Albums so hip-hop und zugleich so normal wie sonst nie.

Anspieltipps: „Demo“ & „Der Krieg“

Mount Kimbie – Love What Survives

Fast etwas skizzenhaft und unfertig wirkt dieses Werk des britischen Duos. Die elektronischen Töne formen sich zu Liedern, die sehr organisch klingen und zwischen Lockerleichtigkeit und düsterer Betrübtheit pendeln.
Love What Survives ist das erste Album von Mount Kimbie, das ich gehört habe. Die Begeisterung war sofort da, als King Krule’s undefinierbarer Gesang im zweiten Titel glänzt und mir einen ungekannt schönen Ausdruck urbaner Wirklichkeit schenkte. Warm ums Herz und wohlig zumute wurde mir bei „Marilyn“, die peitschende Snare wies dennoch darauf hin, nicht zu sehr in Gemütlichkeit zu versinken. Zurecht, wie der nächste Track „SP12 Beat“ zeigte, denn sofort hegte ich den lebhaften Tagtraum vom Snowboarden im Tiefschnee, während die Xylophontöne umhertollen und sich das Gitarrenriff aufbaut, um dann irgendwo im Nichts zu münden.
Besonders hat mich dann „Delta“ beeindruckt. Es klingt so, als wäre dessen Komposition nicht sehr schwer gewesen. Ich finde aber, es fängt die Schönheit der städtischen Hektik des Einzelnen besonders gut ein. Noch besser übrigens im Musikvideo dazu, was ein Liebespaar beim Banküberfall mit einem roten Fiat-Van zeigt und offen lässt, ob der Song nicht der Soundtrack der Polizei zur Verfolgungsjagd ist.
Ein sehr interessantes Hörerlebnis, von dem ich gespannt bin, wie es nach einigem Altern auf mich wirkt. Auch weil es mir die Welt der Band und verwandter Künstler eröffnet hat, ist es mein drittes Album des Jahres.

Anspieltipps: „Blue Train Lines“ & „Delta“


Johannes Giebfried

Bilderbuch – Magic Life

Nachdem Bilderbuch jahrelang im österreichischen Untergrund vor sich hinvegetiert haben, schafften sie 2015 mit dem Album Schick Schock den Sprung ins Rampenlicht. Auf dieses stilbrechende Album nachzulegen sollte kein Spaziergang werden, aber spazieren gehen sowieso nur die, die kein Ziel mehr vor Augen haben.
Mit Magic Life hat die Band ihren individuellen Sound noch weiter verfeinert. Zwischen Rock- und Hip-Hop Beats hüpfen funky Synthesizer, kreischen futuristische Gitarren und jubeln frische Gospelchöre. Sänger Maurice trägt mit Stolz Falco’s Erbe weiter ohne dabei irgendwie lächerlich zu wirken und kritisiert schön unterschwellig all die Mankos unserer modernen Generation, die es zu Falco’s Zeiten noch gar nicht gegeben hat. Die Themen, seine Ausdrucksweise und der Klang der Band verschmelzen insgesamt zu einem formschönen Etwas, das so lässig ist, wie ein Lamborghini, der Schrittgeschwindigkeit fährt, mit einem Fahrer der nach Seife duftet und ein perlmuttfarbenes Hemd trägt.
Ein Album aus Samt.

Anspieltipps: „I <3 Stress“ & „sneakers4free“

Kevin Morby – City Music

Kevin Morby trägt das Erbe Amerikas ganz tief in sich. Es scheint, als atme er ausschließlich Fahrtwind ein, als hätte er sein ganzes Leben auf der Straße verbracht und als habe er immer noch nicht gefunden, was er sucht.
Schon immer ist er in Bewegung, war noch nie wirklich sesshaft. In Texas geboren, in Kansas City aufgewachsen, mit 18 alleine nach New York und später nach Los Angeles gezogen. Davon singt er. Es ist ein Album für die Straße, um nachts, alleine über’s Land zu fahren. Eigentlich weniger city music als on the way to the city music. Es sind Lieder, die zu jeder Zeit in ganz Amerika in jeder beliebigen Highway Raststätte laufen könnten. Leicht zu ignorieren für den, der nur kurz hält um Zigaretten zu kaufen, aber voller wundersamer Überraschungen für den, der sich noch auf einen Kaffee hinsetzt, sich Zeit nimmt und seine Schachtel direkt raucht. Sie erzählen die Geschichte von Springsteen und Dylan und Coltrane und Kerouac und vielen anderen weiter. Americana in seiner reinsten Form.

Anspieltipps: „Crybaby“ & „Dry Your Eyes“

Mavi Phoenix – Young Prophet EP

Dass man stets mit Österreich rechnen muss, sollte in der Musiklandschaft mittlerweile jedem bewusst sein. Trotzdem bin ich immer wieder überrascht, wenn eine weitere neue, gute Band aus den Alpen aufsteigt. Im März habe ich Mavi Phoenix als Vorband von Bilderbuch kennen gelernt. Da stand eine Zwanzigjährige auf der Bühne, die mit mäßigem Erfolg versuchte, nicht schüchtern zu wirken und irgendwie mit der Größe der Halle und des Publikums klarzukommen. Ein halbes Jahr später sehe ich sie wieder auf dem Reeperbahnfestival und ihre Metamorphose zum nächsten großen Star war abgeschlossen. Selbstbewusst nutzte sie die Bühne, unterhielt den ganzen Club und hatte das Funkeln in den Augen, das zeigt, dass sie weiß, was sie kann. Und das zurecht, denn ihr futuristischer Pop-Sound kann sich allemal mit anderen internationalen Größen messen. Sie hat die Songs, die Looks und nach der Bilderbuch-Tour das nötige Selbstbewusstsein, um ganz groß zu werden. 2018 könnte das Jahr der Mavi werden. Zurücklegen, die Young Prophet EP pumpen und gespannt sein ist die Devise.

Anspieltipps: „Janet Jackson“ & „Quiet“


Maximilian Rothe

Lirr – god’s on our side; welcome to the jungle

Als einzige Newcomer-Band meiner Alben des Jahres haben Lirr ein ziemlich beeindruckendes Debutalbum hingelegt. Spielten sie auf ihrer EP Post-Rock mit einigen Hardcore-Elementen, findet sich auf god’s on our side genau das in ausgereifter Form. Man hört, dass man sich Zeit genommen hat, um die zehn Tracks zu sehr starken 29 Minuten zu kombinieren. Dabei bleibt es aber nicht, denn das Album gehört zu einem der wenigen, die ich kenne, die nur als Ganzes richtig strahlen können. Genau das macht ein gutes Album doch aus. Trotzdem können einige Songs auch einzeln überzeugen. Das Interessanteste ist, dass man sich anderen Genres bedient hat, denn ja, das sind Bläser in “sour, pt. 2”. Besonders ist ebenfalls die Abwechslung, die geboten wird und das Konzept hinter dem Album, das es erzählt. Wer also ein sehr atmosphärisches und in sich stimmiges Album hören möchte und eine aufstrebende deutsche Post-Hardcore-Band sucht, ist hier goldrichtig.

Anspieltipps: „jungle, pt.1 + 2“ & „mtv“

Seether – Poison the Parish

Das siebte Album der südafrikanischen Band Seether greift mehr auf die musikalischen Wurzeln zurück. Im Gegensatz zu den letzten zwei Alben der Band trifft man hier auf deutlich härtere Töne, ohne dabei einen Schritt zurück zu gehen. Stattdessen hat man auf Produktion Eigenmarke gesetzt. Gibt es zum einen wieder deutlich mehr Screams von Sänger Shaun Morgan, traut man sich zum anderen auch an fremde Klänge. Bestes Beispiel dafür ist “Let Me Heal”, das sich von den restlichen Liedern dahingehend abhebt, dass es kontinuierlich ruhig bleibt, bis es nach einem eigenartigen Solo lauter wird. Insgesamt haben sich Seether sehr viel Mühe gegeben, ihren neuen Pop-Rock Sound mit “alter Härte” zu verbinden. Einziger Wermutstropfen ist jedoch, dass sich kein reiner Akustik-Song auf dem Album befindet, ist jedoch genau das die Stärke Seethers, allem voran wegen der unverwechselbaren Stimme von Shaun Morgan. Da es dem Album jedoch in keinster Weise schadet, ist es verdient eines meiner Alben des Jahres.

Anspieltipps: „Betray and Degrade“ & „Let Me Heal“

Casper – Lang lebe der Tod

Caspers neustes Album ließ über ein Jahr länger auf sich warten, als geplant, doch die Verlängerung hat sich gelohnt. Was Casper für Bretter abliefert, sucht im Deutschrap seinesgleichen. Fehlte “Sirenen” noch neben dem düsteren “Lang lebe der Tod” und dem Indie-Rock Stück “Keine Angst” seine Daseinsberechtigung, macht es im ganzen Werk Sinn. Ganz zu schweigen von der musikalischen Abwechslung, die trotzdem nicht an Atmosphäre zu verlieren mag, gibt Casper hier alles. Nicht nur textlich befinden sich auf diesem Album viele Goldstücke, sondern auch Caspers Entwicklung als Rapper ist deutlich zu hören. Auf der letzten Hälfte des Albums baut sich um Casper eine Kuppel aus Melancholie auf, aus der man auch als Hörer kaum herauszukommen vermag. Auf Lang lebe der Tod hört man aber auch am besten heraus, dass Casper nicht nur Texte schreibt und rappt, sondern auch musikalisch maßgeblich beteiligt ist, wie “Wo die wilden Maden graben” und “Flackern, flimmern” beweisen. Spätestens nach Lang lebe der Tod sollte jedem klar sein, dass Casper nicht nur der Emo-Rapper von XOXO ist und deutlich mehr Materie hinter dem ihm aufgesetzten Image liegt.

Anspieltipps: „Keine Angst“ & „Meine Kündigung“


Peter Zeipert

Love Theme – Love Theme

Hinter Love Theme verbirgt sich Alex Zhang Hungtai, jener Mensch, der zwischen 2010 und 2014 mit Dirty Beaches den spannendsten Entwurf zeitgenössischer Rock n Roll-Musik in das Popheute hineingerumpelt und dabei Möglichkeitsräume und Schnittflächen zwischen lynchesken Soundscapes, Elvis-Mimese und Lo-Fi-Schummern ausgedeutet hat. Rückte das Saxophon dabei schon auf Schlusspunkt Stateless (+ auch in kleinem Twin-Peaks-Ost-Ausflug + auch bei Marching Church) in prominente Stellung, zentriert Hungtai sein neuestes Projekt nun noch hörbarer um die gute alte mobile Schwermut- und Cheesinessfabrik. Und da Schwermut + Cheesiness nach Adam Riese bekanntlich Liebe ergibt, leuchtet auch die Namensgebung rasch und gut ein. Tatsächlich treffen sich die einzeln in Namen und Sound aufgerufenen Assoziationen – Romantik und Dysfunktion – in der Gesamtästhetik von Love Theme wieder, um ein Ganzes zu bilden. Melancholie als tragendes Stimmungselement hält sich hier schwerpunktmäßig freilich trotzdem an letzterer fest: “Verliebt ist derjenige, der wartet” heißt es bei Barthes – statt Oberflächenbemalung und Kuss vor malerischer Kulisse überträgt sich die Idee der Ego-Projektion in ein imaginiertes, idealisiertes Ander(e)s und ein Narrativ rund um das System Sehnsucht-Verzögerung-Einlösung-Überwindung in das von einem Grundrauschen unterlegte Klangbild. “All Sky, Love’s End” heißt es dann schließlich und hebt durch fatalistischen (aber auch potenten) Titel bei vitalistischem Sound auf die diskursive Verwebung von Unterwerfung und Handlungsfähigkeit ab, verweist auf Verlust, aber auch gestaltbaren Zukunftshorizont. Es geht eben immer weiter, Leute.

Anspieltipps: „Docklands – Yaumatei – Plum Garden“ & „All Sky, Love’s End“

Ariel Pink – Dedicated to Bobby Jameson

Ariel Pinks Erkennungschiffre als Pop-Persona ist das Spiel mit der Klischee gewordenen Grenzfigur, die beharrlich zwischen den mystischen Extrempolen Genie und Wahnsinn pendelt und sich ganz allgemein mal so gar nicht auf die Stulle furzen lässt. Fehlgeleiteter Narzisst mit mysogynen Tendenzen oder übertrollend-fragwürdige Signifizierungspraxis, balla balla oder ungestüm fingiertes, geschmacksbefreites Absetzungskalkül? Die Intentionen hinter mutmaßlichen Kunstfigur-Idiomata sind freilich nie ganz freizulegen und so kritisch dieses Prozedere letztlich auch zu sehen ist, so wenig kann es die Begeisterung für das Popmonster mit Hang zum Abseitigen namens Dedicated to Bobby Jameson bändigen. Schon “Feels like Heaven” überrumpelt in ernster Song-des-Jahres-Manier und voller Überschwang noch mitten in den Aufwärmübungen steckende Gehörgänge und spoilert sich in puncto Hitdichte ganz frei einen von der Leber weg; denn der übersteuerte Bombastrock-Bastard “Time to Live”, das auf rosa Wölkchen daherschwebende “Bubblegum Dreams”, die Überhymne “Kitchen Witch” oder “Another Weekend”, das die Grenze zwischen Augenzwinkern und zartbesaitet-offenem Schmachten einschmilzt, stehen in nichts nach. An jeder Ecke lauern hier angriffslustige Harmonien, die Chartsplatzierungen garantieren würden, wären sie nicht vom Wahnsinn umschlungen und würden Haken schlagen, die jeden noch so verbissenen Verfolger kinderleicht abschütteln können. Pink tüftelt also mal wieder wildeste Genre-Pastiches zusammen und schafft es erneut, nicht in retro-regressive Muster zu verfallen, sondern seine verhaltensauffälligen Pop-Kleinode bei aller Geschichtsbeflissenheit immer wieder ins Unvorhersehbare kippen zu lassen. Eine Wonne!

Anspieltipps: „Feels Like Heaven“ & „Time to Live“

Dedekind Cut – The Expanding Domain

Dedekind Cut aka Lee Bannon ist ein so toller Mensch voller so toller Ideen, dass es ihm nicht genügt, nur 1x im Jahr heißen Scheiß rauszuhauen. Wer noch händeringend ein Weihnachtsgeschenk für Omi sucht: Am 23.12. wird Tahoe erscheinen – die feine, gleichbetitelte und intensiv vorglühende Vorab-Single kann bereits einiges. Im Juni gabs zudem die 20 Minuten schlanke Single “MAÏNSTREAM” (1.1; 1.2) und bereits seit Februar die Welt verbessernd: die knapp 23-minütige EP The Expanding Domain.
Als zwar seine herausragende Veröffentlichung dieses Jahres soll The Expanding Domain dennoch das Dedekind Cutsche Schaffen in 2017 repräsentieren, denn bei aller Vielfalt im Soundbild lässt sich freilich eine werkübergreifende Kontinuität bezeugen: Dedekind Cut ist so oder so der falsche Soundtrack für nyktophob veranlagte Gemüter. “Cold Bloom” und “Lil Puffy Coat” zeigen vereinzelt noch kleine Risse, lassen halbherzig schwaches Dimmerlicht einströmen, der Titeltrack mutiert dann aber in pure, Panik einflößende Unbehaglichkeit, ist der Sound gewordene Abgrund eines falsch abgebogenen Trips. “Das Expanded, Untitled Riff” löst diese Spannung zwar scheinbar auf, grinst, wenn man nicht hinsieht, aber immer noch verdächtig fies vor sich hin. Dedekind Cuts Sound ist schwer greifbar und opak, will nicht vollends verstanden werden, bleibt verschlungen und ist in seiner Ambition, neue ästhetische Formen auszuloten und Definitionshegemonien anzugreifen die politischste Art von Musik, die die Gegenwart zu bieten hat.

Anspieltipps: „Lil Puffy Coat“ & „The Expanding Domain“


Sebastian Wierzba

Fjørt – Couleur

Wuchtiger, emotionsgeladener Post-Hardcore mit intelligenten, oft kryptischen deutschen Texten – mit Couleur, dem dritten Studioalbum der Band Fjørt, hat es in diesem Jahr erneut ein rundum gelungenes Post-Hardcore Werk den ersten Platz meiner Jahrescharts geschafft. Nach den Emotionsentladungen, die im letzten Jahr noch Touché Amoré auf Stage Four unübertrefflich auf Platte gepresst haben, gibt es nun auch von der Aachener Band Fjørt einen weiteren Meilenstein ihrer Bandgeschichte zu vermerken. Es ist das bisher politischste Album der Band und trägt Kritik an der Meinungs- und Empathielosigkeit innerhalb der aktuellen Gesellschaft als Leitmotiv. Couleur knüpft direkt daran an, wo Kontakt aufgehört hat und stellt den Wechsel zwischen ruhigen, atmosphärischen Songstrukturen und brachialen Ausbrüchen noch mehr in den Fokus. Fjørt schaffen es auf Couleur, von vorn bis hinten, mit jedem Stück auf gleiche Weise zu überzeugen. Auch in den meist offen gehaltenen Texten findet jeder seinen eigenen übertragenen Interpretationsspielraum. All dies ist Grund genug, es zu meinem Album des Jahres zu küren.

Anspieltipps: „Magnifique“ & „Couleur“

The Tidal Sleep – Be Water

Neben Couleur von Fjørt knüpft auch das neue Album von The Tidal Sleep an den Post-Hardcore von Touché Amoré oder vor allem an die letzteren Veröffentlichungen der Emo / Post-Hardcore Ikonen Pianos Become The Teeth an. Auf Be Water präsentiert sich deren Klang noch vielfältiger. Über die Albumlänge mixt die Band verschiedene Genres wie Post-Rock, 90er Emo, Hardcore, Punk und Shoegaze zu einem melodischen und sehr emotionsgeladenen Gesamtwerk zusammen. Die Texte sind dabei persönlicher als z.B. bei Fjørt. Verglichen mit dem Vorgänger Vorstellungskraft ist auf Be Water ein gelungenerer Aufbau verschiedener Songstrukturen zu entdecken. Auch mit eingesprochenen Zitaten und einem spanischen Gastgesang von Cándido, dem Sänger der Band Viva Belgrado im Song „Sogas“, zeigt das Album seine Vielfalt. Insgesamt setzen sich vor allem die ersten Stücke der Platte im Ohr fest. Verglichen zu Couleur lässt das Album im Verlauf etwas nach, daher nur Platz zwei. Nichtsdestotrotz ein weiteres Beispiel für gelungenen Post-Hardcore aus Deutschland.

Anspieltipps: „Spills“ & „Sogas“

A Projection – Framework

Bei A Projection handelt es sich um eine Formation aus Stockholm. Melodischer Post-Punk im Stile der Editors, The Cure oder Depeche Mode, begleitet von tiefen Vocals – schon ihr Debütalbum Exit mit dem Hit „Young Days“ vermochte zu überzeugen. In diesem Jahr legte die Band mit Framework, das erneut bei Tapete Records erschien, nochmal eine ordentliche Schippe drauf. Ein durchweg gelungenes, stimmiges und energiegeladenes 80er-Post-Punk Album, in das auch etliche elektronische Elemente mit eingeflossen sind. Die Stimmungslage der Songs variiert. Düstere Stücke alternieren mit euphorischen und treibenden Liedern. Das passt zum Gesamtkonzept des Albums: Die Band versuchte die positiven und negativen Seiten des Großstadtlebens aufzugreifen. Getriebenheit und Euphorie durch vielerlei Möglichkeiten wechseln sich ab mit Isolation, Frustration und Orientierungslosigkeit. Gegensätzlichkeiten wie sie zwischen den einzelnen Songs nicht besser hätten umgesetzt werden können. Im Sektor Post-Punk eine sehr vielversprechende Band. Hoffentlich gibt es davon bald noch mehr zu hören!

Anspieltipps: „Transition“ & „Scattered“